Trieb-, Struktur- und Konflikttheorie
Zentrales Element der Freud’schen Theorie, das von allen psychoanalytischen Schulen geteilt wird, ist die maßgebliche Bedeutung des Unbewussten. Entgegen den gängigen psychiatrischen Auffassungen seiner Zeit verortet Freud die Ursachen neurotischer Symptome nicht im Organischen, sondern in verdrängten Triebimpulsen, Phantasien und Wünschen, die meist im Ödipuskomplex – also in der Beziehung zu den nächsten Bezugspersonen (Eltern) – ihren Ausgangspunkt nehmen. Diese Triebimpulse werden als inakzeptabel erlebt, sie geraten mit bewussten Vorstellungen in Konflikt und werden verdrängt. Sie wirken jedoch weiter im Unbewussten und beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie tauchen in Träumen, in Versprechern oder Symptomen auf. Der Freud’sche Ansatz besteht darin, die verdrängten Inhalte bewusst zu machen und den Konflikt in der aktuellen psychoanalytischen Situation – in der Beziehung zum/zur Analytiker*in, der sogenannten Übertragungsbeziehung – wiederzubeleben und zu bearbeiten. Freuds zentrale Annahmen sind radikal: die Konzeption eines Subjekts, das auch durch unbewusste libidinöse und destruktive Triebkräfte bestimmt wird; das Ausgehen von einer kindlichen Sexualität, die eine Vielzahl von Lustmöglichkeiten kennt; die Vorstellung, dass Geschlechtsidentität und erwachsene Sexualität nicht biologisch determiniert sind, sondern sich durch Identifizierungen und Konflikte im Ödipuskomplex herausbilden.
Die Triebtheorie hat sich seit Freud durch verschiedenste Akzentverschiebungen zu einem in sich pluralen Feld ausdifferenziert. Während einige Vertreter*innen Ansätze aus den Objektbeziehungstheorien aufgriffen, fokussierten andere auf den Konflikt, auf die von Freud beschriebene Struktur der Psyche bestehend aus Ich, Es und Über-Ich und die Abwehrmechanismen. Weitere Vertreter*innen erweiterten etwa die innerpsychische Dynamik um intersubjektive Ansätze.
Jean Laplanche (1924, Paris - 2012, Beaune)

Von Jean Laplanche stammt eine der wichtigsten und originellsten Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Triebtheorie in der Tradition Freuds. Nach dem Studium der Philosophie beginnt Laplanche in den 1940er-Jahren eine Lehranalyse bei Jacques Lacan und schließlich auch ein Medizin-Studium. In den 1960er-Jahren wendet sich Laplanche von Lacans Theorien und Behandlungsansätzen ab und beginnt seine eigene unorthodoxe Annäherung an Freuds Werk. Während Freud den Trieb als Reiz denkt, der im Körper seinen Ausgangspunkt nimmt und eine „Arbeitsanforderung“ an die Psyche stellt, verortet Laplanche den Trieb von Anfang an in einer sozialen Situation. Das triebhaft Sexuelle entsteht im Kind durch die Einschreibung rätselhafter Botschaften aus dem Unbewussten der Erwachsenen. In der Psychoanalyse geht es mit Laplanche also nicht darum, einen ursprünglich gegebenen und dann verdrängten Inhalt aufzuspüren, sondern um neue Übersetzungen, Dekonstruktionen und Konstruktionen von Inhalten – die immer rätselhaft und unzugänglich bleiben müssen, da sie vom Anderen kommen.
Foto: Jean Laplanche
Ilka Quindeau: Freudian and Contemporary Psychoanalytic Drive and Conflict Theory
Berlin, 23. Jänner 2020
Ilka Quindeau, Prof. Dr., ist Psychologin, Soziologin und Psychoanalytikerin. Sie ist Lehranalytikerin (DPV/IPA), Professorin für Psychoanalyse und war von 2018 bis 2020 Präsidentin der International Psychoanalytic University in Berlin. Gegenwärtig arbeitet sie als Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Ilka Quindeau hat umfassend zu Fragen von Geschlecht und Sexualität, Biographie- und Traumaforschung publiziert, u. a. Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud (2008), Der Wunsch nach Nähe – Liebe und Begehren in der Psychotherapie (zusammen mit Wolfgang Schmidbauer, 2017).