Selbstpsychologie
Die zentralen Ansätze der psychoanalytischen Selbstpsychologie werden von Heinz Kohut in den 1960er und 1970er-Jahren in Chicago formuliert. Bereits in seinen Arbeiten zum Narzissmus, den er nicht als bloßen Vorläufer zur Objektliebe, sondern als eigene psychische Entwicklungslinie versteht, deutet sich sein späterer Fokus auf das Selbst an. Zu den Grundlagenwerken der Selbstpsychologie zählen Kohuts Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Die Heilung des Selbst und Wie heilt die Psychoanalyse?
Den Begriff des Selbst übernimmt Kohut vom Ich-Psychologen Heinz Hartmann, er entwickelt ihn jedoch sukzessive weiter. Im Unterschied zur Triebtheorie sieht die Selbstpsychologie psychisches Leiden nicht zentral in Triebkonflikten begründet, sondern vor allem in einem schwachen oder defizitär entwickelten Selbst, das u. a. durch mangelnde Empathie und Zugewandtheit der Bezugspersonen in der Kindheit entsteht. Den Ödipuskomplex versteht Kohut als sekundäres Phänomen und interpretiert ihn als Versuch der Kompensation einer unzureichenden Beziehung zwischen dem Kind und den ersten wichtigen Bezugspersonen. Die Behandlungsweise der Selbstpsychologie zielt daher auf die Herstellung eines kohärenten bzw. auf die Heilung eines beschädigten Selbst und nicht – wie etwa in der Triebtheorie – auf die Durcharbeitung infantiler Konflikte.
Da psychisches Leiden in einer mangelnden Entwicklung des Selbst gesehen wird, spielt Empathie im Behandlungskonzept der Selbstpsychologie eine zentrale Rolle. Mit ihrer Konzentration auf die analytische Beziehung und die Intersubjektivität trägt die Selbstpsychologie maßgeblich zur Entwicklung des intersubjektiven und des relationalen Ansatzes in der Psychoanalyse bei.
Heinz Kohut (1913, Wien - 1981, Chicago)
Kohut ist ein bedeutender postfreudianischer Psychoanalytiker, der die erste originär in den USA entstandene psychoanalytische Schule begründet. Der studierte Mediziner beginnt 1937 in Wien eine Analyse bei August Aichhorn. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich zwingt den aus einer jüdischen Familie stammenden Kohut zur Flucht in die USA. Kohut ist in den 1960er-Jahren Präsident der American Psychoanalytic Association (APA) und Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Mit der Hinwendung zum Selbst als wichtiger psychischer Struktur tritt Kohut in Distanz zur triebtheoretischen Auseinandersetzung mit Konflikten, was massive Ablehnung, vor allem durch europäische Psychoanalytiker*innen, auslöst. Dennoch wird die Selbstpsychologie zu einer einflussreichen Strömung, die viele psychoanalytische Sichtweisen über die Grenzen der ‚Schulen‘ hinweg beeinflusst hat: So gehört etwa der von Kohut stammende Begriff „Selbstobjekt“ – ein reifes Selbstobjekt entsteht durch empathische und zugewandte Bezugspersonen – mittlerweile zum Kanon psychoanalytischer Terminologie.
Foto: Heinz Kohut in den 1970ern. Courtesy Thomas Kohut
Chris Jaenicke: Self Psychology
Berlin, 24. Jänner 2020
Chris Jaenicke, Dipl. Psych., ist Psychoanalytiker, Lehranalytiker, klinischer Supervisor und Lehrender in der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie, Berlin e.V. Jaenicke hat zu Intersubjektivität und Selbstpsychologie publiziert und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Selbstpsychologie. Europäische Zeitschrift für Psychoanalytische Therapie und Forschung. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. Veränderung in der Psychoanalyse: Selbstreflexionen des Analytikers in der therapeutischen Beziehung (2010), Die Suche nach Bezogenheit: Eine intersubjektiv-systemische Sicht (2014).