Als der Marmor weinte

Über die Jahrhunderte hinweg, so sagt man, hat so mancher Reisende angesichts der großartigen Schönheit des Parthenon Tränen vergossen. Manche Reisende weinten auch wegen der tragischen Zerstörung und schrecklichen Verstümmelung des Parthenon. Er ist ein Symbol der altgriechischen Demokratie und westlichen Zivilisation und war der erste Tempel, der auf der Akropolis errichtet wurde. Es ist eine ehrfurchterweckende Erfahrung, zur Akropolis hinaufzusteigen, die Propyläen (den Torbau) zu durchschreiten und dem griechischen Nationalsymbol gegenüberzustehen. Der Parthenon besaß viele großartige Skulpturen, die vor allem Teil der Schmuckfriese und Metopen waren, die das Äußere des Tempels zierten. Diese Skulpturen bestanden, ebenso wie der gesamte Parthenon und die anderen Tempel der Akropolis, aus dem weißen Marmor des nahen Pendeli-Massivs.

Die Parthenonskulpturen, die verschiedene Szenen der griechischen Mythologie und religiöse Zeremonien zeigten, waren besonders kunstvoll gearbeitet. Sie waren in leuchtenden Farben bunt bemalt. Die Gesamtzahl der Skulpturen einschließlich jener an den Giebeln, Metopen und Friesen, wird auf mehrere Hundert geschätzt. Viele wurden im Laufe der Jahrhunderte beschädigt oder zerstört. Die meisten jedoch wurden geraubt und befinden sich im British Museum in London. Die Parthenonskulpturen werden in der großen Duveen Gallery des Museums prominent ausgestellt. Die Galerie ist nach Joseph Duveen benannt, einem reichen Mäzen und skrupellosen Kunsthändler in den 1930er-Jahren. Sie beherbergt 15 Metopen, 17 Giebelfiguren und 75m des Originalfrieses. Es wird berichtet, dass das Museum annähernd 8.000 griechische Kunstwerke besitzt, die es nicht ausstellt.

Diese zweieinhalbtausend Jahre alten Parthenonskulpturen sind Gegenstände von immenser symbolischer Bedeutung. Sie repräsentieren eine Preisung von Athene, der Schutzgöttin von Athen, und zeigen die Griechen bei der Überwindung der Kräfte von Unordnung und Irrationalität. Für die Griechen war erhabene Kunst Ausdruck von Proportion und Harmonie und stand damit mit Wahrheit in Verbindung. Ihre Kunst existierte als integriertes Ganzes. Das Thema des Westgiebels war der Wettstreit zwischen Athene und Poseidon um den Besitz von Attika: die wenigen überlebenden Körper gehören zu den schönsten Darstellungen des menschlichen Körpers, die je in der Antike hervorgebracht wurden. Der Ostgiebel zeigte die wundersame Geburt der voll bewaffneten Athene aus dem Haupt des Zeus und die Festlichkeiten aus diesem Anlass. Der Ostgiebel handelt davon, wie ein ganzer Stadtstaat der Schutzgöttin Athene seine Ehrerbietung erweist.

Die gewaltsame Entfernung der Parthenonskulpturen (alias Elgin Marbles) wurde zwischen 1801 und 1804 von Thomas Bruce, dem 7. Earl of Elgin, initiiert und geleitet, als Griechenland noch unter ottomanischer Herrschaft stand. Zu dieser Zeit war Elgin der britische Botschafter beim türkischen Sultan in Konstantinopel. Elgin war ein räuberischer Sammler und schaffte die unschätzbaren Skulpturen in sein Heim in Großbritannien. Die Skulpturen wurden schließlich 1811 von Elgin an die britische Regierung verkauft, weil er bankrott war. Das britische Unterhaus stimmte dem Ankauf der Sammlung für die Nation nach einer Debatte zu. In der Debatte brachten seine Mitglieder ihre Sorge zum Ausdruck, dass Elgin seine Position als Botschafter ungebührlich ausgenutzt haben könnte, um seine Unterlagen aus Konstantinopel zu erhalten. Englische Zeitgenossen, etwa der philhellenische Dichter Lord Byron, hatten kein Verständnis für die Taten von Elgin und verspotteten ihn sogar. Byron verurteilte Elgins Aktivitäten als „letzte armselige Beute aus einem blutenden Land“. Während die Gegenwart der Skulpturen in Großbritannien nie unumstritten war, wurde die Abwesenheit der Skulpturen in Griechenland als Amputation empfunden, die die „Seele“ seines Volkes in Mitleidenschaft gezogen hat.

Kostas Gavrás: Parthenon

Seit die Parthenonskulpturen im Jahr 1817 im British Museum öffentlich zur Schau gestellt werden, haben Amtsträger den rechtmäßigen Anspruch von London hauptsächlich mit zwei Behauptungen begründet: Erstens sagte der britische Staat, er sein der rechtmäßige Besitzer, obwohl Elgin nie Dokumente vorlegen konnte. Auch heute noch beansprucht Großbritannien einen Rechtstitel. Die zweite Behauptung besteht darin, dass die Griechen, würden die Parthenonskulpturen an Griechenland zurückgegeben, sie nicht richtig erhalten könnten.

In Bezug auf die Besitzbehauptung veröffentlichte David Rudenstein, ehemaliger Dekan der Cardozo School of Law an der Yeshiva University, eine langatmige und hochgelobte rechtliche Ausführung mit dem Titel „Trophies for the Empire: The Epic Dispute Between Greece and England over the Parthenon Sculptures in the British Museum“ [Trophäen für das Empire: Der epische Streit von Griechenland und England um die Parthenonskulpturen im British Museum]. Er schließt, dass es keinen glaubhaften Beweis für Elgins Behauptung gibt, dass er von den Ottomanen irgendein Dokument erhalten habe, das ihm die Entfernung der Skulpturen erlaubt hätte. Seine Recherche zeigt, dass es wahrscheinlich ist, dass Elgins Handwerker die Erlaubnis erhalten hatten, Skulpturen zu zeichnen, zu malen, zu vermessen, Abdrücke zu nehmen und nach begrabenen Skulpturen zu suchen. Ähnlich argumentiert die europäische Rechtswissenschaftlerin Catherine Titi, die Autorin des 2023 erschienenen Buches The Parthenon Marbles and International Law [Die Parthenonskulpturen im internationalen Recht], dass die britische Regierung und das British Museum sich in Bezug auf die Besitzfrage gewiefter und eigennütziger Narrative bedienen. Sie stellt fest, dass das britische Argument für den Besitz und die Einbehaltung der Skulpturen auf wackeligen völkerrechtlichen Beinen steht. Rudenstein und Titis detaillierte Untersuchungen schließen, dass der Besitz nie bei Elgin und den Briten lag.

Die zweite historische Behauptung lautete, dass die Griechen unfähig seien, ihre Skulpturen zu schützen. Während das teilweise durchaus stimmte, war es doch beleidigend. Luftverschmutzung und saurer Regen in Athen hätten jede Skulptur, die auf dem Baudenkmal selbst verblieben wäre, zerfressen. Zudem war das alte Akropolismuseum in der Nähe der Tempel recht klein und unzulänglich. Ironischerweise wurde in den 1990er-Jahren aufgedeckt, dass das British Museum Jahrzehnte zuvor Drahtbürsten benutzt hatte, um die Skulpturen zu reinigen. Ein griechischer Amtsträger nannte das die „Folterung der Skulpturen”. 2009 stellte die griechische Regierung etwa 300 Meter vom Parthenon entfernt ein aufregendes neues Akropolismuseum fertig. Die Parthenon-Galerie im dritten Stock ist darauf ausgelegt, die Skulpturen auszustellen, die Griechenland noch hat. An Stelle der fehlenden Skulpturen stehen augenfällig und geschmackvoll Abgüsse.

Vor Kurzem, und dies ist ihnen hoch anzurechnen, hat der Vorstand des British Museum diese zweite Behauptung fallengelassen. Allerdings argumentieren sie jetzt, dass ihr Museum „universal“ oder „enzyklopädisch“ und daher eine angemessene Institution für die Erhaltung und Untersuchung von globalen Schätzen sei. In einer bedauerlichen Entwicklung enthüllte das British Museum Ende 2023, dass beinahe 2.000 Gegenstände, deren Herkunft von der Antike bis ins 19. Jahrhundert reicht, aus seinen riesigen Speichern verschwunden sind, und dass der für die griechischen Altertümer verantwortliche Kurator ein Hauptverdächtiger ist.

Die Abwesenheit der antiken Parthenonskulpturen in Griechenland ist ein moralisches Unrecht, das die britische Regierung und das British Museum seit mehr als 200 Jahren begehen. Für die Griechen bedeutet sie unendlich viel, sodass die Debatte selbst ein wiederkehrendes kulturelles Trauma mit starken emotionalen Dimensionen darstellt. Die traumatisierende Wirklichkeit waren die 400 Jahre dauernde ottomanische Besetzung Griechenlands und die imperiale Herrschaft des britischen Empire über viele Teile Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert. Wenn die aktuelle Psychoanalyse uns etwas lehrt, dann dass Kultur und Gesellschaft die individuelle und kollektive Psyche durchdringen, und zudem, dass Anerkennung und Bestätigung das Gefühl einer gesetzesgemäßen und gerechten Welt wiederherstellen und damit kulturelle und nationale Gefühle von Leid und Zerstörung abbauen können.

Was bewegt die Briten? Was bewegt die Griechen dazu, seit 200 Jahren um ihre Skulpturen zu flehen? Oberflächlich betrachtet betreiben die Briten die übliche Dynamik einer ehemaligen Kolonialmacht, die versucht, an ihrer vergangenen Relevanz und ehemaligen Privilegien festzuhalten. Für die Griechen geht es um Gerechtigkeit, einen rechtmäßigen Anspruch auf kulturelles Erbe und Identität. Unbewusst sind wir Zeugen wiederholter Inszenierungen von Neid, Habgier und Zerstörung der Marmorgegenstände, die Athena Parthenos, die jungfräuliche Göttin darstellen. In unserem postkolonialen Jahrhundert stellt die Abwesenheit der Parthenonskulpturen eine fortgesetzte symbolische Ausschlachtung durch das Vereinigte Königreich nach dem Brexit dar. Für Griechenland könnte die Rückgabe einen Weg darstellen, seine Herkunft und ein Gefühl der Wirkungskraft auf den aktuellen kulturellen und politischen Schauplätzen wiederzugewinnen.

Schließlich kann die Rückgabe der Parthenonskulpturen an Athen als Stellungnahme für die Bedeutung des Kontextes für Kunstwerke betrachtet werden. Fern ihrer Heimat, das heißt ihrem Kontext, ihrem Ort und den benachbarten Fragmenten, sind die Skulpturen verwaist. Selbst in unserer Zeit von Google und KI altert die Erinnerung im modernen Griechenland nicht. Es ist Zeit für die Wiedervereinigung und Wiedereingliederung der Parthenonskulpturen mit ihren Geschwistern. Die in Athen lebende amerikanische Dichterin Alicia Stallings meint, die Rückgabe wäre eine „großartige Geste“ seitens der Briten. Jedenfalls würde sie viel dazu beitragen, die Beschädigungen und Brüche zu kitten, die die Skulpturen so viele Jahrhunderte lang erlitten haben.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, ist Direktor des New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Er ist Fellow der American Psychological Association (APA) und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (SPPP) der APA sowie der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy. Er ist Mitglied im Beirat des Sigmund Freud Museums in Wien. 2016 war er gemeinsam mit Eliot Jurist Mitherausgeber der Sonderbeilage von Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema "Psychoanalysis and the Humanities". 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group. Im Jahr 2023 erhielt er den SPPS Award for International Activism for Social Justice. Er praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie und leitet Kreativitätsstudiengruppen.