Abwesenheit

ABWESENHEIT hat viele Gesichter – so kann das Nichtvorhandensein einer Person oder eines Objekts gemeint sein oder im übertragenen Sinne der Zustand gedanklicher Entrückung oder Absenz. Die körperliche Erscheinung eines Menschen garantiert bekanntlich nicht die Gegenwärtigkeit seines Geistes. Aber auch das Imaginäre bedarf letztlich einer materiellen Manifestation, um wahrgenommen zu werden: spürbare Impulse, die über den Sinnesapparat erfasst in psychische Empfindungen münden und einem inneren Echo gleich auf die äußeren Einwirkungen antworten – mit diesen vielleicht über eine gewisse Zeitdauer hinweg in korrespondierende Schwingungen geraten, in einen von Gefühlen getragenen Austausch.

Es ist vor allem diese Fähigkeit, geistig emotionale Verbindungen zwischen Außen- und Innenwelten knüpfen zu können, die das Individuum als soziales Wesen prägt und ihm hilft, sich in seiner Welt zu verorten. Näher betrachtet ist dieser Eignung auch die Möglichkeit immanent, Vergangenes mit Aktuellem zu verknüpfen, sich zu erinnern oder aber dem Erleben anderer nachzuspüren.

Dieses Vermögen der menschlichen Psyche bildete auch für die Neukonzeption des Sigmund Freud Museums 2020 eine grundlegende Voraussetzung: Ganz im Sinne des Leitgedankens „Ersinnen, um zu sehen“ wurden in den Schauräumen Wandmalereien freigelegt, historische Fotografien platziert und Leerstellen, die von der Flucht der Familie 1938 vor den Nationalsozialisten zeugen, bewusst markiert. Diese kuratorischen und architektonische Interventionen ent-deckten im tatsächlichen Sinn des Wortes die mit der Zeit verschwundenen und übertünchten Reste einer vergangenen Welt, die nun in der Phantasie rekonstruiert als reine Vorstellung unsere Hinwendung und Aufmerksamkeit beansprucht.

Die Marginalität der Relikte reizt aber nicht nur zur Vervollständigung vor dem geistigen Auge, sie rückt vor allem das nicht mehr Vorhandene, verloren Gegangene in den Fokus. Die inszenierte Sichtbarkeit von Abwesendem verunklärt oder verschleiert aber keineswegs – im Gegenteil, sie schärft den Blick auf vergangene Ereignisse und Schicksale, die bis heute als individuelle sowie kollektive Verlusterfahrungen spürbar geblieben sind.

So ist das nicht (mehr) Gegenwärtige dem Genius Loci der ehemaligen Wirkungsstätte Freuds in der Wiener Berggasse eingeschrieben, ebenso wie der Wissenschaft der Psychoanalyse: dieser widmete sich ihr Begründer vor Ort beinahe ein halbes Jahrhundert lang, um die Realitäten des Unbewussten zu erforschen, die sich der Ratio weitestgehend entziehen und wenn überhaupt, dann nur unvollständig zu Tage treten.

Bleibt uns eine vollkommene und umfassende Einsicht in die inneren Verhältnisse unseres psychischen Apparats laut Freud auch verwehrt, so ist es doch sinnstiftend, sich mit dem Abwesenden, das auf unser Dasein so nachdrücklich einwirkt, zu beschäftigen – weshalb sich auch die Mitglieder unseres wissenschaftlichen Beirats in den folgenden Texten mit dem Thema ABWESENHEIT auseinandersetzen. Für die schönen und interessanten Text- und Bildbeiträge, die unserem diesjährigen Jahresschwerpunkt so facettenreich begegnen, danken wir herzlich:

Jeanne Wolff Bernstein (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse), Herman Westerink (Radboud University Nijmegen), Lisa Appignanesi (King's College London), Oleksandr Filts (Danylo Halytsky Lviv National Medical University), Rubén Gallo (Princeton University), Gohar Homayounpour (Freudian Group of Tehran), Victor Mazin (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg) und Spyros D. Orfanos (New York University).

 

Monika Pessler

Direktorin
Sigmund Freud Museum Wien