
Lob der Abwesenheit
In der Freudschen Metapsychologie ist es völlig unmöglich, ohne die Abwesenheit des Anderen eine Psyche zu entwickeln – die Subjektivität, die nur über das Kollektiv möglich wird. Ein Sinn für das Soziale, die Begegnung mit Ethik und ethischen Beziehungen, die nur über die Abwesenheit des Anderen zu Möglichkeiten werden. Wir beginnen unseren primären Narzissmus nur durch die Anerkennung des Mangels aufzugeben, der uns durch die Abwesenheit des Anderen aufgezwungen wird, die unausweichlich zur Einladung in die Außenwelt wird, zu einem Einsatz hin zu einem anderen.
Das „da“, das am Rande der Sprache über das „fort“ hinunterrollt, das so großartig durch das Fort-Da-Spiel ausgedrückt wird, das Freuds Enkel spielt. Die beunruhigende Abwesenheit, die den Weg für die Möglichkeiten des Werdens eröffnet, der Anerkennung von Differenz, und auch von Einschränkungen. Von Träumen … Dieses unverzichtbare Verstecken, das Suchen und Gefunden-Werden ermöglicht, denn über dieses Verstecken werde ich anfangen, dich zu finden, dich wiederzufinden, was stets mit der riskanten Wahrscheinlichkeit verflochten ist, mich zu finden.
Ein derartiges Verschwinden ist durch das Aufgeben magischen Denkens und kindlicher Allmacht ein wesentlicher Bestandteil des Zaubers. Ach, wo ist das Objekt? Und wo ist sie hin? Was fehlt an mir, was hat zu einem so quälenden Weggehen geführt? Und noch konkreter, mit wem ist sie fortgegangen? Hier liegt der Beginn von Ödipus, der Anfang der Triangulation, des kleinen Forschers, der für immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage ist, wo Babys herkommen.
Abwesenheit des Anderen ist unsere einzig mögliche Eintrittskarte zu Realitätsprinzip und Lustprinzip, zur Entwicklung von Sprache, zum Eintreten in die symbolische Ordnung, zum Entwickeln von Gegenmitteln gegen Psychosen und das schwarze Loch der Melancholie. Gewiss, alle derartigen Gegenmittel sind unsicher, jedenfalls besteht ein wiederholtes Hin und Her. Denn wir wissen durch Freud, dass die Rebellion gegen die Einschränkungen des Realitätsprinzips zugunsten eines Glaubens an die kindliche Allmacht als Merkmal jedes neurotischen Leidens auftritt.
Ohne durch die Abwesenheit des Anderen gestört zu werden, wäre uns die Aussicht verwehrt, auf das bewegende Auftauchen des Anderen zu stoßen. Ohne Abwesenheit sind wir für immer verloren, im Sumpf des „Jenseits des Lustprinzips“ gefangen, da uns die riskante Chance darauf verwehrt wurde, den Anderen leidenschaftlich zu entdecken, und damit all die kaleidoskopartigen Triumphe und Wehklagen des Eintritts in ethische Beziehungen.
Mit anderen Worten: In der Abwesenheit der Abwesenheit des Anderen würden wir nur den Tod des Subjekts erleben.
Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).