Ist das Sigmund Freud Museum ein Ort, an dem Abwesenheit inszeniert, sichtbar und – paradoxerweise – gegenwärtig gemacht wird? Die Antwort könnte gut „Ja und Nein“ lauten. Freuds eigene, einprägsamste Interpretation einer Szene der Inszenierung von Abwesenheit ist wohl diejenige des Spiels seines Enkels mit der Holzspule an einem Faden. Ein Spiel, bei dem die Spule geworfen wird, bis sie verschwindet, und sie zurückzuziehen, um sie wieder auftauchen zu lassen. Fort und wieder da. Ein hoher Standspiegel im Raum ermöglicht dem kleinen Jungen Lust zu finden, indem er sich – seine Reflektion – verschwinden und auftauchen lässt. Es ist ein lustvoller Ausgleich, so Freud, für die wiederholten Abwesenheiten der Mutter und damit der Lust, die ihre Anwesenheit bietet. Wie ist das möglich? Es liegt daran, dass die Mutter des Kleinkinds weder ständig anwesend noch endgültig verloren ist. Was abwesend ist, ist nicht verloren und kann wieder gegenwärtig gemacht werden. Und was ständig anwesend ist, muss nicht durch das Vergnügen des Spiels, der kreativen Inszenierung und Sichtbarmachung sowohl von Anwesenheit als auch Abwesenheit kompensiert werden. Eben dieses Spiel wird, obwohl es nicht mehr von Freud selbst beobachtet wird, in diesem Museum endlos wiederholt. Was abwesend ist, sollte nicht verloren gehen, es sollte immer und immer wieder inszeniert werden.

Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.