Abwesenheit - Jahresthema 2024

Einleitung von Monika Pessler

ABWESENHEIT hat viele Gesichter – so kann das Nichtvorhandensein einer Person oder eines Objekts gemeint sein oder im übertragenen Sinne der Zustand gedanklicher Entrückung oder Absenz. Bleibt uns eine vollkommene und umfassende Einsicht in die inneren Verhältnisse unseres psychischen Apparats laut Freud auch verwehrt, so ist es doch sinnstiftend, sich mit dem Abwesenden, das auf unser Dasein so nachdrücklich einwirkt, zu beschäftigen – weshalb sich auch die Mitglieder unseres wissenschaftlichen Beirats in den folgenden Texten mit dem Thema ABWESENHEIT auseinandersetzen. Mehr...

Absence

Abwesenheit: allein das Wort lässt an einen leeren Raum denken, aus dem eine geliebte Gegenwart – ein empfindungsfähiger anderer, eine Mutter, ein Bruder, eine Geliebte – verschwunden ist. Doch das Subjekt ist da, um das Verschwinden, den Verlust zu empfinden. Das bringt eine neue Verletzlichkeit mit sich, ein Schrumpfen. Im Gefolge von Pandemie und Kriegen oder, bei den Älteren unter uns, von jedem vergehenden Tag ist die äußerste Abwesenheit des Todes eine greifbare Tatsache des täglichen Lebens. Sie ist eine der Hauptkomponenten unserer inneren Landschaft, wird manchmal leicht in die Erinnerung verdrängt oder in Träumen erlebt, oder in einer kaum bewussten Atmosphäre des Wartens.

Freud befasst sich damit zum ersten Mal in seinem Jenseits des Lustprinzips, das er nach dem Ersten Weltkrieg in Angriff nahm. Nach einem Abschnitt über traumatische Neurosen leitet er zu einem Spiel über, das ein eineinhalbjähriges Kleinkind erfunden hat und wiederholt spielt. (Der Junge ist sein Enkel, der Sohn seiner Tochter Sophie, die bald selbst der Grippeepidemie zum Opfer fallen sollte.) In Reaktion darauf, dass seine Mutter fortgeht, wie es alle Betreuungspersonen irgendwann müssen, erfindet der kleine Junge das Fort-Da-Spiel: Er wirft eine Holzspule, die an einen Bindfaden geknüpft ist, aus seinem Bettchen, sodass sie abwesend ist, wobei er bei ihrem Verschwinden ausdrucksvoll o-o-o-o bzw. „fort“ sagt. Beim Zurückholen der Spule ruft er freudig „da“! Dadurch, und durch die Wiederholung, bewältigt er die schmerzliche Erfahrung der Abwesenheit seiner Mutter und überwindet seine eigene Passivität.

Dieser Wiederholungszwang führt Freud zu einer Betrachtung des Todestriebs. Abwesenheit ist zwangsläufig mit unserer eigenen Abwesenheit verbunden. Wir brauchen andere, und manchmal die kunstvollen Spiele, die wir erfinden, um mit der unausweichlichen Abwesenheit zurechtzukommen.

Daran lässt mich dieses frühe Gemälde des in Berlin lebenden Künstlers Mathias Schauwecker denken. Der Raum ist dunkel und leer, der Tisch ungesellig. Doch in der Ferne ist ein Licht und das Versprechen eines Paris voller Menschen.

Lisa Appignanesi OBE (britischer Verdienstorden) ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, Romanautorin und Kulturkommentatorin. Sie war Präsidentin des English PEN, Vorsitzende des Freud Museum London und bis 2020 Vorsitzende der Royal Society of Literature, deren Vizepräsidentin sie jetzt ist. Außerdem ist sie Gastprofessorin am King's College London. Zu ihren nichtfiktionalen Publikationen gehören u.a. Everyday Madness: On Grief, Anger, Loss and Love (2018), Trials of Passion: Crimes in the Name of Love and Madness (2014), All About Love: Anatomy of an Unruly Emotion (2011), das preisgekrönte Mad Bad and Sad: A History of Women and the Mind Doctors from 1800 (2008); Freud's Women (1992/2005, mit John Forrester) und ein biografisches Porträt von Simone de Beauvoir (2005). Sie ist außerdem Autorin der von der Kritik gelobten Familienerinnerungen Losing the Dead (1999) und von neun Romanen, darunter The Memory Man (2004, ausgezeichnet mit dem Holocaust Fiction Prize) und Paris Requiem (2001/2014).

Oleksandr Filts lebt und arbeitet in Lwiw (Ukraine) und ist aufgrund anderer, dringender Herausforderungen in Zeiten des Krieges nicht in der Lage, ein Statement zu verfassen.

Oleksandr Filts, Prof. Dr., leitet als Psychiater und psychoanalytischer Psychotherapeut die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Fakultät für postgraduale Ausbildung der Nationalen Medizinischen Universität Danylo Halytsky Lviv. Er ist überdies Gründungsmitglied und Präsident des ukrainischen Dachverbands für Psychotherapie. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit österreichischen Psychotherapeut:innen ein Ausbildungsprojekt für Gruppenpsychotherapie, das er bis heute gemeinsam mit Liudmyla Samsonova leitet. Von 2005 bis 2007 war Professor Filts Präsident der European Association of Psychotherapy (EAP). Die Arbeit mit Krisen, traumatischen Erfahrungen und deren Folgen ist einer der vielen Schwerpunkte seiner Arbeit.

Abwesenheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rubén Gallo is the Walter S. Carpenter, Jr. Professor in Latin American Literature at Princeton University, where he has taught since 2002. He is the author of many books on Twentieth Century culture, including Mexican Modernity: The Avant-Garde and the Cultural Revolution (2006, MIT Press, winner of the MLA’s Katherine Singer Kovacs Prize), Freud’s Mexico: Into the Wilds of Psychoanalysis (2010, MIT, winner of the Gradiva Prize), Proust’s Latin Americans (2014, Hopkins). He is also a novelist and was published two books on Cuba: Teoría y práctica de la Habana (2017) and Muerte en La Habana (2021). His work has been translated into French, Spanish, Italian, Japanese and Chinese. In 2020 he was elected to the American Academy of Arts and Sciences.

Lob der Abwesenheit

In der Freudschen Metapsychologie ist es völlig unmöglich, ohne die Abwesenheit des Anderen eine Psyche zu entwickeln – die Subjektivität, die nur über das Kollektiv möglich wird. Ein Sinn für das Soziale, die Begegnung mit Ethik und ethischen Beziehungen, die nur über die Abwesenheit des Anderen zu Möglichkeiten werden. Wir beginnen unseren primären Narzissmus nur durch die Anerkennung des Mangels aufzugeben, der uns durch die Abwesenheit des Anderen aufgezwungen wird, die unausweichlich zur Einladung in die Außenwelt wird, zu einem Einsatz hin zu einem anderen.

Das „da“, das am Rande der Sprache über das „fort“ hinunterrollt, das so großartig durch das Fort-Da-Spiel ausgedrückt wird, das Freuds Enkel spielt. Die beunruhigende Abwesenheit, die den Weg für die Möglichkeiten des Werdens eröffnet, der Anerkennung von Differenz, und auch von Einschränkungen. Von Träumen … Dieses unverzichtbare Verstecken, das Suchen und Gefunden-Werden ermöglicht, denn über dieses Verstecken werde ich anfangen, dich zu finden, dich wiederzufinden, was stets mit der riskanten Wahrscheinlichkeit verflochten ist, mich zu finden.

Ein derartiges Verschwinden ist durch das Aufgeben magischen Denkens und kindlicher Allmacht ein wesentlicher Bestandteil des Zaubers. Ach, wo ist das Objekt? Und wo ist sie hin? Was fehlt an mir, was hat zu einem so quälenden Weggehen geführt? Und noch konkreter, mit wem ist sie fortgegangen? Hier liegt der Beginn von Ödipus, der Anfang der Triangulation, des kleinen Forschers, der für immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage ist, wo Babys herkommen.

Abwesenheit des Anderen ist unsere einzig mögliche Eintrittskarte zu Realitätsprinzip und Lustprinzip, zur Entwicklung von Sprache, zum Eintreten in die symbolische Ordnung, zum Entwickeln von Gegenmitteln gegen Psychosen und das schwarze Loch der Melancholie. Gewiss, alle derartigen Gegenmittel sind unsicher, jedenfalls besteht ein wiederholtes Hin und Her. Denn wir wissen durch Freud, dass die Rebellion gegen die Einschränkungen des Realitätsprinzips zugunsten eines Glaubens an die kindliche Allmacht als Merkmal jedes neurotischen Leidens auftritt.

Ohne durch die Abwesenheit des Anderen gestört zu werden, wäre uns die Aussicht verwehrt, auf das bewegende Auftauchen des Anderen zu stoßen. Ohne Abwesenheit sind wir für immer verloren, im Sumpf des „Jenseits des Lustprinzips“ gefangen, da uns die riskante Chance darauf verwehrt wurde, den Anderen leidenschaftlich zu entdecken, und damit all die kaleidoskopartigen Triumphe und Wehklagen des Eintritts in ethische Beziehungen.

Mit anderen Worten: In der Abwesenheit der Abwesenheit des Anderen würden wir nur den Tod des Subjekts erleben.

 

Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).

Absence/Abwesenheit

Das englische „absence” wäre wörtlich übersetzt ein Mangel and Sinn, im Deutschen ist Abwesenheit wiederum ein Mangel an Wesenheit, also Sein. Und tatsächlich schwebt Abwesenheit zwischen diesen beiden Konnotationen, da es häufig unmöglich ist, in einer Abwesenheit einen Sinn zu finden und das eigene Seinsgefühl in einer tiefen Erfahrung von Abwesenheit in Gefahr kommen kann. Abwesenheit hält sich in den Lücken, den Brüchen, den Schweigen und Schatten unseres Lebens, ihr Erleben ist nicht mit dem akuten Schmerz eines Menschen beim Verlust eines Objekts zu verwechseln. Freud sprach das an, als er bekanntlich in Trauer und Melancholie (1915/1917) schrieb: „Der Schatten des Ich fiel so auf das Objekt.“ In den dunkeln Strahlen, der Zwischenwelt zwischen dem Ich und seinen verlorenen Objekten, findet die Abwesenheit ihren Platz und wirft ihre Schatten.

Sam Gerson (2018) erfasst diese Unterscheidung am treffendsten, wenn er schreibt: „die Suche für die Shoah-Künstler der zweiten und dritten Generation war nicht mehr so sehr auf Gedenken und die Aufzeichnung der Vergangenheit ausgerichtet, sondern auf die Notwendigkeit, etwas zu erschaffen wo nichts gewesen war: eine Lücke, eine Leerstelle inmitten der Psyche. Statt eines überlieferten Verlusts wurde nun Abwesenheit vermittelt … Abwesenheiten schaffen eine nicht enden wollende Notwendigkeit, sich mit unrepräsentierter Erfahrung und Empfindsamkeit auseinanderzusetzen.“ (S. 18). Wenn Abwesenheit nicht als Verlust symbolisiert werden kann, läuft sie Gefahr, eine endlose und fortdauernde Tragödie zu bleiben.

Jeanne Wolff Bernstein, Ph.D., ist ehemalige Präsidentin, Supervisorin und Analytikerin am Psychoanalytic Institute of Northern California (PINC), San Francisco. Sie ist Mitglied des Lehrkörpers des PINC und des NYU Post-Doctoral Program for Psychoanalysis and Psychotherapy. Sie war 2008 Fulbright-Freud Visiting Lecturer of Psychoanalysis am Sigmund Freud Museum in Wien. Sie ist Mitglied und Vorstandsmitglied des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse und arbeitet heute als Psychoanalytikerin in Wien. Sie hat zahlreiche Artikel zu den Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht. Derzeit arbeitet sie an ihrem Buch über Edouard Manet, Enframing The Gaze.

 

Abwesenheit.

Im September 2022 scheine ich Abwesenheit zum ersten Mal wirklich empfunden zu haben. Ich kam in das Universitätsinstitut, an dem ich mehr als zwanzig Jahre lang gearbeitet habe, und statt meiner Freunde und Kollegen traf ich auf Lücken. Der Raum um mich herum erschien erodiert. Es erinnerte mich an Stephen Kings Die Langoliers. Ich spürte mit allen Sinnen Abwesenheit, Lücken in Raum und Zeit. Plötzlich waren meine lieben Freunde verschwunden. Es war nicht die Abwesenheit des Sprachvermögens von Menschen. Es war keine Derrida’sche Abwesenheit, das, was durch die Metaphysik der Gegenwart verdrängt wird. Es war nicht die Negativität der Psychoanalyse in der Epoche des wilden Positivismus. Es war kein Lacan’scher Mangel, der es erlaubt zu atmen. Nein. Es war Schmerz und Verzweiflung angesichts der unheimlichen, unerträglichen Abwesenheit, als hätte ein hilfloses Kind die Hoffnung auf die Rückkehr der Mutter verloren.

Dr. Viktor Mazin, Ph.D., ist praktizierender Psychoanalytiker. Der Gründer des Freud's Dream Museum in St. Petersburg (1999) ist Ehrenmitglied des Museum of Jurassic Technology (Los Angeles) sowie Leiter der Abteilung für theoretische Psychoanalyse am Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse (St. Petersburg), außerordentlicher Professor an der Fakultät für freie Künste und Wissenschaften der Staatlichen Universität St. Petersburg und Ehrenprofessor des Instituts für Tiefenpsychologie (Kiew). Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Russische tätig und war Chefredakteur der Zeitschrift Kabinet und Mitglied der Redaktionsausschüsse folgender Fachzeitschriften: Psychoanalysis (Kiew), European Journal of Psychoanalysis (Rom), Transmission (Sheffield), Journal for Lacanian Studies (London). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher über Psychoanalyse, Dekonstruktion, Kino und bildende Kunst verfasst.

Als der Marmor weinte

Über die Jahrhunderte hinweg, so sagt man, hat so mancher Reisende angesichts der großartigen Schönheit des Parthenon Tränen vergossen. Manche Reisende weinten auch wegen der tragischen Zerstörung und schrecklichen Verstümmelung des Parthenon. Er ist ein Symbol der altgriechischen Demokratie und westlichen Zivilisation und war der erste Tempel, der auf der Akropolis errichtet wurde. Es ist eine ehrfurchterweckende Erfahrung, zur Akropolis hinaufzusteigen, die Propyläen (den Torbau) zu durchschreiten und dem griechischen Nationalsymbol gegenüberzustehen. Der Parthenon besaß viele großartige Skulpturen, die vor allem Teil der Schmuckfriese und Metopen waren, die das Äußere des Tempels zierten. Diese Skulpturen bestanden, ebenso wie der gesamte Parthenon und die anderen Tempel der Akropolis, aus dem weißen Marmor des nahen Pendeli-Massivs.

Die Parthenonskulpturen, die verschiedene Szenen der griechischen Mythologie und religiöse Zeremonien zeigten, waren besonders kunstvoll gearbeitet. Sie waren in leuchtenden Farben bunt bemalt. Die Gesamtzahl der Skulpturen einschließlich jener an den Giebeln, Metopen und Friesen, wird auf mehrere Hundert geschätzt. Viele wurden im Laufe der Jahrhunderte beschädigt oder zerstört. Die meisten jedoch wurden geraubt und befinden sich im British Museum in London. Die Parthenonskulpturen werden in der großen Duveen Gallery des Museums prominent ausgestellt. Die Galerie ist nach Joseph Duveen benannt, einem reichen Mäzen und skrupellosen Kunsthändler in den 1930er-Jahren. Sie beherbergt 15 Metopen, 17 Giebelfiguren und 75m des Originalfrieses. Es wird berichtet, dass das Museum annähernd 8.000 griechische Kunstwerke besitzt, die es nicht ausstellt.

Diese zweieinhalbtausend Jahre alten Parthenonskulpturen sind Gegenstände von immenser symbolischer Bedeutung. Sie repräsentieren eine Preisung von Athene, der Schutzgöttin von Athen, und zeigen die Griechen bei der Überwindung der Kräfte von Unordnung und Irrationalität. Für die Griechen war erhabene Kunst Ausdruck von Proportion und Harmonie und stand damit mit Wahrheit in Verbindung. Ihre Kunst existierte als integriertes Ganzes. Das Thema des Westgiebels war der Wettstreit zwischen Athene und Poseidon um den Besitz von Attika: die wenigen überlebenden Körper gehören zu den schönsten Darstellungen des menschlichen Körpers, die je in der Antike hervorgebracht wurden. Der Ostgiebel zeigte die wundersame Geburt der voll bewaffneten Athene aus dem Haupt des Zeus und die Festlichkeiten aus diesem Anlass. Der Ostgiebel handelt davon, wie ein ganzer Stadtstaat der Schutzgöttin Athene seine Ehrerbietung erweist.

Die gewaltsame Entfernung der Parthenonskulpturen (alias Elgin Marbles) wurde zwischen 1801 und 1804 von Thomas Bruce, dem 7. Earl of Elgin, initiiert und geleitet, als Griechenland noch unter ottomanischer Herrschaft stand. Zu dieser Zeit war Elgin der britische Botschafter beim türkischen Sultan in Konstantinopel. Elgin war ein räuberischer Sammler und schaffte die unschätzbaren Skulpturen in sein Heim in Großbritannien. Die Skulpturen wurden schließlich 1811 von Elgin an die britische Regierung verkauft, weil er bankrott war. Das britische Unterhaus stimmte dem Ankauf der Sammlung für die Nation nach einer Debatte zu. In der Debatte brachten seine Mitglieder ihre Sorge zum Ausdruck, dass Elgin seine Position als Botschafter ungebührlich ausgenutzt haben könnte, um seine Unterlagen aus Konstantinopel zu erhalten. Englische Zeitgenossen, etwa der philhellenische Dichter Lord Byron, hatten kein Verständnis für die Taten von Elgin und verspotteten ihn sogar. Byron verurteilte Elgins Aktivitäten als „letzte armselige Beute aus einem blutenden Land“. Während die Gegenwart der Skulpturen in Großbritannien nie unumstritten war, wurde die Abwesenheit der Skulpturen in Griechenland als Amputation empfunden, die die „Seele“ seines Volkes in Mitleidenschaft gezogen hat.

Kostas Gavrás: Parthenon

Seit die Parthenonskulpturen im Jahr 1817 im British Museum öffentlich zur Schau gestellt werden, haben Amtsträger den rechtmäßigen Anspruch von London hauptsächlich mit zwei Behauptungen begründet: Erstens sagte der britische Staat, er sein der rechtmäßige Besitzer, obwohl Elgin nie Dokumente vorlegen konnte. Auch heute noch beansprucht Großbritannien einen Rechtstitel. Die zweite Behauptung besteht darin, dass die Griechen, würden die Parthenonskulpturen an Griechenland zurückgegeben, sie nicht richtig erhalten könnten.

In Bezug auf die Besitzbehauptung veröffentlichte David Rudenstein, ehemaliger Dekan der Cardozo School of Law an der Yeshiva University, eine langatmige und hochgelobte rechtliche Ausführung mit dem Titel „Trophies for the Empire: The Epic Dispute Between Greece and England over the Parthenon Sculptures in the British Museum“ [Trophäen für das Empire: Der epische Streit von Griechenland und England um die Parthenonskulpturen im British Museum]. Er schließt, dass es keinen glaubhaften Beweis für Elgins Behauptung gibt, dass er von den Ottomanen irgendein Dokument erhalten habe, das ihm die Entfernung der Skulpturen erlaubt hätte. Seine Recherche zeigt, dass es wahrscheinlich ist, dass Elgins Handwerker die Erlaubnis erhalten hatten, Skulpturen zu zeichnen, zu malen, zu vermessen, Abdrücke zu nehmen und nach begrabenen Skulpturen zu suchen. Ähnlich argumentiert die europäische Rechtswissenschaftlerin Catherine Titi, die Autorin des 2023 erschienenen Buches The Parthenon Marbles and International Law [Die Parthenonskulpturen im internationalen Recht], dass die britische Regierung und das British Museum sich in Bezug auf die Besitzfrage gewiefter und eigennütziger Narrative bedienen. Sie stellt fest, dass das britische Argument für den Besitz und die Einbehaltung der Skulpturen auf wackeligen völkerrechtlichen Beinen steht. Rudenstein und Titis detaillierte Untersuchungen schließen, dass der Besitz nie bei Elgin und den Briten lag.

Die zweite historische Behauptung lautete, dass die Griechen unfähig seien, ihre Skulpturen zu schützen. Während das teilweise durchaus stimmte, war es doch beleidigend. Luftverschmutzung und saurer Regen in Athen hätten jede Skulptur, die auf dem Baudenkmal selbst verblieben wäre, zerfressen. Zudem war das alte Akropolismuseum in der Nähe der Tempel recht klein und unzulänglich. Ironischerweise wurde in den 1990er-Jahren aufgedeckt, dass das British Museum Jahrzehnte zuvor Drahtbürsten benutzt hatte, um die Skulpturen zu reinigen. Ein griechischer Amtsträger nannte das die „Folterung der Skulpturen”. 2009 stellte die griechische Regierung etwa 300 Meter vom Parthenon entfernt ein aufregendes neues Akropolismuseum fertig. Die Parthenon-Galerie im dritten Stock ist darauf ausgelegt, die Skulpturen auszustellen, die Griechenland noch hat. An Stelle der fehlenden Skulpturen stehen augenfällig und geschmackvoll Abgüsse.

Vor Kurzem, und dies ist ihnen hoch anzurechnen, hat der Vorstand des British Museum diese zweite Behauptung fallengelassen. Allerdings argumentieren sie jetzt, dass ihr Museum „universal“ oder „enzyklopädisch“ und daher eine angemessene Institution für die Erhaltung und Untersuchung von globalen Schätzen sei. In einer bedauerlichen Entwicklung enthüllte das British Museum Ende 2023, dass beinahe 2.000 Gegenstände, deren Herkunft von der Antike bis ins 19. Jahrhundert reicht, aus seinen riesigen Speichern verschwunden sind, und dass der für die griechischen Altertümer verantwortliche Kurator ein Hauptverdächtiger ist.

Die Abwesenheit der antiken Parthenonskulpturen in Griechenland ist ein moralisches Unrecht, das die britische Regierung und das British Museum seit mehr als 200 Jahren begehen. Für die Griechen bedeutet sie unendlich viel, sodass die Debatte selbst ein wiederkehrendes kulturelles Trauma mit starken emotionalen Dimensionen darstellt. Die traumatisierende Wirklichkeit waren die 400 Jahre dauernde ottomanische Besetzung Griechenlands und die imperiale Herrschaft des britischen Empire über viele Teile Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert. Wenn die aktuelle Psychoanalyse uns etwas lehrt, dann dass Kultur und Gesellschaft die individuelle und kollektive Psyche durchdringen, und zudem, dass Anerkennung und Bestätigung das Gefühl einer gesetzesgemäßen und gerechten Welt wiederherstellen und damit kulturelle und nationale Gefühle von Leid und Zerstörung abbauen können.

Was bewegt die Briten? Was bewegt die Griechen dazu, seit 200 Jahren um ihre Skulpturen zu flehen? Oberflächlich betrachtet betreiben die Briten die übliche Dynamik einer ehemaligen Kolonialmacht, die versucht, an ihrer vergangenen Relevanz und ehemaligen Privilegien festzuhalten. Für die Griechen geht es um Gerechtigkeit, einen rechtmäßigen Anspruch auf kulturelles Erbe und Identität. Unbewusst sind wir Zeugen wiederholter Inszenierungen von Neid, Habgier und Zerstörung der Marmorgegenstände, die Athena Parthenos, die jungfräuliche Göttin darstellen. In unserem postkolonialen Jahrhundert stellt die Abwesenheit der Parthenonskulpturen eine fortgesetzte symbolische Ausschlachtung durch das Vereinigte Königreich nach dem Brexit dar. Für Griechenland könnte die Rückgabe einen Weg darstellen, seine Herkunft und ein Gefühl der Wirkungskraft auf den aktuellen kulturellen und politischen Schauplätzen wiederzugewinnen.

Schließlich kann die Rückgabe der Parthenonskulpturen an Athen als Stellungnahme für die Bedeutung des Kontextes für Kunstwerke betrachtet werden. Fern ihrer Heimat, das heißt ihrem Kontext, ihrem Ort und den benachbarten Fragmenten, sind die Skulpturen verwaist. Selbst in unserer Zeit von Google und KI altert die Erinnerung im modernen Griechenland nicht. Es ist Zeit für die Wiedervereinigung und Wiedereingliederung der Parthenonskulpturen mit ihren Geschwistern. Die in Athen lebende amerikanische Dichterin Alicia Stallings meint, die Rückgabe wäre eine „großartige Geste“ seitens der Briten. Jedenfalls würde sie viel dazu beitragen, die Beschädigungen und Brüche zu kitten, die die Skulpturen so viele Jahrhunderte lang erlitten haben.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, ist Direktor des New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Er ist Fellow der American Psychological Association (APA) und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (SPPP) der APA sowie der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy. Er ist Mitglied im Beirat des Sigmund Freud Museums in Wien. 2016 war er gemeinsam mit Eliot Jurist Mitherausgeber der Sonderbeilage von Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema "Psychoanalysis and the Humanities". 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group. Im Jahr 2023 erhielt er den SPPS Award for International Activism for Social Justice. Er praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie und leitet Kreativitätsstudiengruppen.

Ist das Sigmund Freud Museum ein Ort, an dem Abwesenheit inszeniert, sichtbar und – paradoxerweise – gegenwärtig gemacht wird? Die Antwort könnte gut „Ja und Nein“ lauten. Freuds eigene, einprägsamste Interpretation einer Szene der Inszenierung von Abwesenheit ist wohl diejenige des Spiels seines Enkels mit der Holzspule an einem Faden. Ein Spiel, bei dem die Spule geworfen wird, bis sie verschwindet, und sie zurückzuziehen, um sie wieder auftauchen zu lassen. Fort und wieder da. Ein hoher Standspiegel im Raum ermöglicht dem kleinen Jungen Lust zu finden, indem er sich – seine Reflektion – verschwinden und auftauchen lässt. Es ist ein lustvoller Ausgleich, so Freud, für die wiederholten Abwesenheiten der Mutter und damit der Lust, die ihre Anwesenheit bietet. Wie ist das möglich? Es liegt daran, dass die Mutter des Kleinkinds weder ständig anwesend noch endgültig verloren ist. Was abwesend ist, ist nicht verloren und kann wieder gegenwärtig gemacht werden. Und was ständig anwesend ist, muss nicht durch das Vergnügen des Spiels, der kreativen Inszenierung und Sichtbarmachung sowohl von Anwesenheit als auch Abwesenheit kompensiert werden. Eben dieses Spiel wird, obwohl es nicht mehr von Freud selbst beobachtet wird, in diesem Museum endlos wiederholt. Was abwesend ist, sollte nicht verloren gehen, es sollte immer und immer wieder inszeniert werden.

Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.

Abwesenheit

ABWESENHEIT hat viele Gesichter – so kann das Nichtvorhandensein einer Person oder eines Objekts gemeint sein oder im übertragenen Sinne der Zustand gedanklicher Entrückung oder Absenz. Die körperliche Erscheinung eines Menschen garantiert bekanntlich nicht die Gegenwärtigkeit seines Geistes. Aber auch das Imaginäre bedarf letztlich einer materiellen Manifestation, um wahrgenommen zu werden: spürbare Impulse, die über den Sinnesapparat erfasst in psychische Empfindungen münden und einem inneren Echo gleich auf die äußeren Einwirkungen antworten – mit diesen vielleicht über eine gewisse Zeitdauer hinweg in korrespondierende Schwingungen geraten, in einen von Gefühlen getragenen Austausch.

Es ist vor allem diese Fähigkeit, geistig emotionale Verbindungen zwischen Außen- und Innenwelten knüpfen zu können, die das Individuum als soziales Wesen prägt und ihm hilft, sich in seiner Welt zu verorten. Näher betrachtet ist dieser Eignung auch die Möglichkeit immanent, Vergangenes mit Aktuellem zu verknüpfen, sich zu erinnern oder aber dem Erleben anderer nachzuspüren.

Dieses Vermögen der menschlichen Psyche bildete auch für die Neukonzeption des Sigmund Freud Museums 2020 eine grundlegende Voraussetzung: Ganz im Sinne des Leitgedankens „Ersinnen, um zu sehen“ wurden in den Schauräumen Wandmalereien freigelegt, historische Fotografien platziert und Leerstellen, die von der Flucht der Familie 1938 vor den Nationalsozialisten zeugen, bewusst markiert. Diese kuratorischen und architektonische Interventionen ent-deckten im tatsächlichen Sinn des Wortes die mit der Zeit verschwundenen und übertünchten Reste einer vergangenen Welt, die nun in der Phantasie rekonstruiert als reine Vorstellung unsere Hinwendung und Aufmerksamkeit beansprucht.

Die Marginalität der Relikte reizt aber nicht nur zur Vervollständigung vor dem geistigen Auge, sie rückt vor allem das nicht mehr Vorhandene, verloren Gegangene in den Fokus. Die inszenierte Sichtbarkeit von Abwesendem verunklärt oder verschleiert aber keineswegs – im Gegenteil, sie schärft den Blick auf vergangene Ereignisse und Schicksale, die bis heute als individuelle sowie kollektive Verlusterfahrungen spürbar geblieben sind.

So ist das nicht (mehr) Gegenwärtige dem Genius Loci der ehemaligen Wirkungsstätte Freuds in der Wiener Berggasse eingeschrieben, ebenso wie der Wissenschaft der Psychoanalyse: dieser widmete sich ihr Begründer vor Ort beinahe ein halbes Jahrhundert lang, um die Realitäten des Unbewussten zu erforschen, die sich der Ratio weitestgehend entziehen und wenn überhaupt, dann nur unvollständig zu Tage treten.

Bleibt uns eine vollkommene und umfassende Einsicht in die inneren Verhältnisse unseres psychischen Apparats laut Freud auch verwehrt, so ist es doch sinnstiftend, sich mit dem Abwesenden, das auf unser Dasein so nachdrücklich einwirkt, zu beschäftigen – weshalb sich auch die Mitglieder unseres wissenschaftlichen Beirats in den folgenden Texten mit dem Thema ABWESENHEIT auseinandersetzen. Für die schönen und interessanten Text- und Bildbeiträge, die unserem diesjährigen Jahresschwerpunkt so facettenreich begegnen, danken wir herzlich:

Jeanne Wolff Bernstein (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse), Herman Westerink (Radboud University Nijmegen), Lisa Appignanesi (King's College London), Oleksandr Filts (Danylo Halytsky Lviv National Medical University), Rubén Gallo (Princeton University), Gohar Homayounpour (Freudian Group of Tehran), Victor Mazin (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg) und Spyros D. Orfanos (New York University).

 

Monika Pessler

Direktorin
Sigmund Freud Museum Wien