50 Jahre Sigmund Freud Museum

Ein Blick zurück in die Zukunft

Zum 50. Jubiläum werfen wir mit der Bildjournalistin Barbara Pflaum, die das Eröffnungsereignis des Sigmund Freud Museums dokumentierte, einen Blick auf den 15. Juni 1971. An diesem Tag wurde in Anwesenheit des Österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky und zahlreicher Honoratioren aus dem In- und Ausland eine Freud-Gedenkstätte an der ehemaligen Wirkungsstätte des Begründers der Psychoanalyse eröffnet.

Drei Jahre zuvor war die Sigmund-Freud-Gesellschaft ins Leben gerufen worden, der es unter der Präsidentschaft des Exil-Wieners Friedrich Hacker und mit Hilfe von Bund und Stadt gelang, die ersten Museumsräume zu erwerben. Harald Leupold-Löwenthal zeichnete als Direktor für die erste Ausstellung verantwortlich, die zahlreiche Bilder, Schriften und Dokumente zu Freuds Leben und Werk präsentierte.

In einem Akt der Versöhnung unterstützte vor allem Anna Freud die Museumsgründung: Unter anderem stiftete sie die Einrichtung des Wartezimmers der väterlichen Praxis und initiierte Anfang der 1970er die heutige "Bibliothek der Psychoanalyse" in der Berggasse 19. Sie kam selbst erst ein Monat später nach Wien, um die verlorene Heimat, aus der sie 1938 vertrieben worden war, anlässlich des 27. Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zu besuchen. Paula Fichtl, seit Jahrzehnten Haushälterin und Vertraute der Familie, reiste zur Museumseröffnung aus London an und brachte Sigmund Freuds Hut und Spazierstock mit.

Eröffnung des Sigmund Freud Museums, Wien, 15. Juni 1971. Alle Fotos von Barbara Pflaum

 

50 Jahre Sigmund Freud Museum. Ein Blick zurück in die Zukunft

Seit der Eröffnung des Wiener Sigmund Freud Museums 1971 ist ein halbes Jahrhundert vergangen – und da „die Gegenwart zur Vergangenheit geworden sein [muss], wenn man aus ihr Anhaltspunkte zur Beurteilung des Zukünftigen gewinnen soll“ (Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, 1927c, S. 326.), nutzen wir das Privileg der Spätgeborenen und werfen einen Blick auf die gravierenden Anfänge dieser Museumsgeschichte: nicht nur, um ihr Jubiläum zu feiern, sondern auch, um Einsichten und Impulse für gegenwärtige sowie künftige Entwicklungen zu gewinnen. Zur Gründungssitzung der Sigmund Freud Gesellschaft (SFG), der nachmalig ersten Betreiberin des Sigmund Freud Museums, versammelten sich am 28. November 1968 unter dem Vorsitz des österreichischen Bundeskanzlers Josef Klaus hochrangige Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Presse – darunter der bekannte Publizist und Journalist Hugo Portisch sowie Österreichs späterer Bundespräsident Thomas Klestil, damals Legationsrat und Sekretär des Bundeskanzlers. Die Bundesregierung „habe mit der Bereitstellung der zur Anschaffung der ehemaligen Freud-Wohnung nötigen Gelder […] die Initiative zur Gründung der Gesellschaft ergriffen, die vor allem dem Ziele dienen sollte, die großen Verdienste Freuds […] entsprechend zu würdigen“, (Protokoll über die konstituierende Versammlung zur Gründung einer Sigmund Freud-Gesellschaft in Wien am 28. November 1968, Archiv der Sigmund Freud Gesellschaft/des Sigmund Freud Museums, S. 1 f.), hielt Bundeskanzler Klaus in seinen einleitenden Worten fest.

Tatsächlich soll er wenige Wochen zuvor im Zuge diplomatischer Gespräche im Weißen Haus mit der Frage konfrontiert worden sein, wie es in Wien um die Wertschätzung Sigmund Freuds bestellt sei. Der erste Präsident der SFG Friedrich Hacker (ein in Amerika praktizierender renommierter Psychoanalytiker, Aggressionsforscher und Exilwiener mit zahlreichen Verbindungen im In- und Ausland, sollte sowohl als Kommunikator zwischen den USA und Österreich dienen als auch die internationale Wahrnehmung der SFG sichern) berichtete seinem Freund Max Horkheimer, dass es „eine formale Anfrage des amerikanischen Präsidenten“ (Friedrich Hacker in einem Brief an Max Horkheimer 1969) Lyndon B. Johnson gewesen sei, die dazu geführt habe, ihn mit der Schaffung eines Sigmund Freud-Gedenkorts zu beauftragen. Und da Freud fast ein halbes Jahrhundert lang in der Wiener Berggasse 19 gewirkt hatte, bevor er 1938 vor dem nationalsozialistischen Terror floh, wurden eben dort die ehemaligen Praxisräume des Begründers der Psychoanalyse von Bund und Stadt erworben und renoviert, um drei Jahre später am 15. Juni 1971 eröffnet zu werden: „Hitze, Gedränge, Stimmengewirr. In zwei der vielen Räume stauen sich etwa 150 Gäste, tout Vienne, dazu Gäste aus Amerika. Diesmal sind der Herr Bundeskanzler, die Frau Vizebürgermeister, Stadträte, Honoratioren erschienen. Die Dankesschuld wird abgetragen, das Unrecht wiedergutgemacht“, (Hilde Spiel, "Die Couch blieb in London", in: FAZ, 18.6.1971.) so die distanziert ironische Schilderung Hilde Spiels, Schriftstellerin und bedeutende sowie unbestechliche Chronistin der Nachkriegsjahre, die selbst aufgrund ihrer politischen Gesinnung und Aktivitäten schon 1936 gezwungen war, nach London zu emigrieren.

Barbara Pflaum, First Lady der Wiener Pressefotografie, dokumentierte das Ereignis. Für ihre raffinierten und gleichermaßen unprätentiösen Momentaufnahmen bekannt, lieferte sie der Nachwelt eine kleine Anzahl symbolträchtiger Bildzeugnisse: wie jenes, das Bundeskanzler Bruno Kreisky in Rückenansicht zeigt, als er bedächtig durch die Tür in Freuds ehemalige Praxis schreitet. In seiner Eröffnungsrede, so berichtete die Wiener Zeitung am folgenden Tag, dankte der Bundeskanzler seinem Vorgänger Josef Klaus für dessen Engagement und wünschte sich als einer, der selbst lange Jahre im Exil verbracht hatte, für die Zukunft des Landes eine „Institutionalisierung der Freud-Renaissance“, damit „dem heute noch ausgeprägten Unbehagen an unserer gesellschaftlichen Kultur“ zu Leibe gerückt werden könne. („Wiener Freud-Museum eröffnet. Bundeskanzler Dr. Kreisky würdigte in einer Ansprache den großen Gelehrten“, in: Wiener Zeitung, 16. Juni 1971.)

So begann Österreichs Stimme spät, zögerlich und gedämpft von der Vorsicht metaphernreichen Wortspiels (hier einerseits durch die Verwendung des Begriffs „Renaissance“ - „Wiederbelebung“ im Hinblick auf die bis dato nahezu vollständig vernichtete Kultur jüdischen Ursprungs in Österreich, andererseits durch die nachfolgende Anspielung auf Sigmund Freuds kulturkritischen Text Das Unbehagen in der Kultur von 1930), sich für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu erproben. Es sollte noch zwei Jahrzehnte dauern, bis Bundeskanzler Franz Vranitzky Österreichs Schuld und Mittäterschaft am Nazi-Regime offiziell bekennen wird und dem hierzulande beanspruchten „Opferstatus“ eine dezidierte Absage erteilt. Dass Freud selbst, kurz nachdem er Wien verlassen hatte, lediglich von der „deutschen Invasion“ (Sigmund Freud in einem BBC-Interview nach seiner Immigration ins Londoner Exil am 7. 12. 1938) als Ursache für seine Flucht sprach, verwundert hingegen nicht: Korrespondierte er auch zu Beginn der 1930er mit Albert Einstein über „Krieg“ und waren ihm auch die Auswirkungen des rasant ansteigenden Antisemitismus nicht verborgen geblieben, so reichte selbst das Vorstellungsvermögen dieses Pessimisten nicht aus, um das wirkliche Ausmaß der nationalsozialistischen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erahnen – ebenso wenig wie die Zeit, die ihm bis zu seinem Tod im September 1939 blieb, um von den Deportationen seiner in Wien zurückgebliebenen Schwestern zu erfahren. Erst nach Kriegsende wurden die noch lebenden Mitglieder der Familie über die Ermordung der „Tanten“ im Jahr 1942 informiert.

Auf Barbara Pflaums Fotos steht häufig eine Zeitzeugin im Mittelpunkt, die 1971 an Ort und Stelle von diesen und anderen Geschehnissen berichten konnte: Paula Fichtl, seit 1929 im Dienst der Freuds, verließ Wien mit diesen gemeinsam am 4. Juni 1938 und kehrte erst nach Anna Freuds Tod 1982 in ihre ursprüngliche Heimat Salzburg zurück. Als enge Vertraute vertrat sie die Familie am Tag der Museumseröffnung in Wien und schrieb sich mit ihren Erinnerungen auch weiterhin aktiv in die museale Nacherzählung der Vita Freuds ein. So stützte sich auch die erste bedeutsame Rekonstruktion von Freuds Wartezimmer 1985 vorwiegend auf Paula Fichtls Gedächtnis. Die originalen Wartezimmermöbel waren schon zu Beginn der 1970er für die Eröffnungsausstellung nach Wien gebracht worden. Unter der Direktion des Psychoanalytikers Harald Leupold-Löwenthal konnten laufend weitere Exponate aus dem Familienbesitz der Freuds in die Sammlung integriert werden – sodass sich ab 1975 die Dauerausstellung um ein Dreifaches vergrößert präsentierte.

Die Vervollständigung der Dauerausstellung zu Freuds Leben fand schließlich 1985 mit der Installation eines permanenten Displays in Freuds Arbeits- und Behandlungszimmer ihren Abschluss für die kommenden fünfunddreißig Jahre: Auf der obersten Ebene des horizontal gegliederten Wandverbaus wurden Dokumente und Fotografien ausgestellt, in den Schaukästen darunter Separata und kleinere Objekte wie Sigmund Freuds Brieftasche, seine Visitenkarten und sein Füllfederhalter – Memorabilien, die Tochter Anna 1972 persönlich nach Wien brachte. (Hans Lobner, Zu Anna Freuds Rückkehr in die Berggasse (1971, 1972) nach Handnotizen desselben Datums, In: Sigmund Freud Papers, Library of Congress, Washington D.C.: Interviews and Recollections, 1914-1998; Set A, 1914-1998; Recollections; Lobner, Hans, 1973, S. 5.)

Die unterste Ebene blieb wie schon in der ursprünglichen Präsentation den Fotografien Edmund Engelmans vorbehalten, die noch vor Freuds Flucht auf Geheiß des Pädagogen und Psychoanalytikers August Aichhorn angefertigt worden waren, damit „ein Museum geschaffen werden kann, wenn der Sturm der Jahre vorüber ist“ (Edmund Engelman, „Rückblick“, in: Sigmund Freud. Wien IX. Berggasse 19, 3. überarbeitete Auflage, Christian Brandstätter Verlag GmbH., 2016, S. 89).

Dass Anna Freud nach der Shoah und als umsichtige Verwalterin des väterlichen Erbes für eine solche Unternehmung nicht leicht gewonnen werden konnte, geht aus einem Dankesschreiben Friedrich Hackers vom 27. September 1971 hervor: „Hochverehrte und liebe Frau Doktor Freud […] ich bin überzeugt, dass Sie gespürt haben, dass sich Ihr Opfer gelohnt hat, da Sie der Sache der Psychoanalyse einen wichtigen Auftrieb nicht nur in Wien, sondern in der ganzen Welt gegeben und auch vielen Menschen ein bewegendes und unvergessliches Erlebnis vermittelt haben.“ Hier bezieht sich der Präsident der SFG auf Anna Freuds Teilnahme am 27. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der im Juli 1971, ein Monat nach der Eröffnung des Museums in Wien stattfand. Anna Freud, die schon seit 1925 die Geschicke der IPV mitverantwortete, hatte letztendlich nicht nur Wien als Austragungsort dieses Kongresses befürwortet. Als Komitee-Mitglied der SFG und spätere Ehrenpräsidentin war sie ebenso mit der anfänglichen Entwicklung der wissenschaftlichen Agenden des Sigmund Freud Museums befasst.

Über ihren ersten Besuch in der Berggasse 19 seit ihrer Flucht ins Londoner Exil 33 Jahre zuvor berichtete Hans Lobner, der damals noch als Medizinstudent mit den organisatorischen Belangen des Museums betraut worden war. Inklusive der symbolträchtigen Übergabe des Hausschlüssels sollte Anna Freuds Besichtigung am 22. Juli 1971 diskret erfolgen. So kam es, dass selbst Lobner angehalten wurde, sich nicht zu zeigen, weshalb er das Ereignis nur aus der Ferne und heimlich beobachtete: „Es lag damals eine gewisse mitfühlende Hysterie in der Luft“, schrieb er in seinen Erinnerungen, „es war den Beteiligten über-bewusst, dass dieser besondere Anlass von Gefühlen Anna Freuds belastet sein könnte und vielleicht Verständnis und Takt erfordere. Ich nehme gleich vorweg, dass – wie an sich zu erwarten – Anna Freud diejenige war, die am meisten Souveränität im Umgang mit ihren Gefühlen zeigte.“ (Hans Lobner, Zu Anna Freuds Rückkehr in die Berggasse … op. cit.)


In seinen Notizen verzeichnete Lobner zudem drei weitere Besuche, die Anna Freud mit Freundinnen und Freunden am 25., 27. und 31. Juli 1971 im Anschluss an die Kongresssitzungen absolvierte. Bei diesen Gelegenheiten war es dem angehenden Kustos dann doch möglich, mit der bedeutendsten Stifterin des Museums ins Gespräch zu kommen und Wesentliches über einzelne Ausstellungsstücke zu erfahren. (Ebenda, S. 1 ff.)

Friedrich Hacker schreibt bezüglich der Museumsbesuche Anna Freuds in schon oben erwähntem Brief: „Es hat uns natürlich gefreut und befriedigt, dass Sie im Großen und Ganzen mit der bisherigen Arbeit der SFG einverstanden waren; Ich finde auch, dass Ihre Anregungen über die weiteren Tätigkeiten durchaus fruchtbar sind und weiterverfolgt werden sollten. Ich bitte Sie herzlich, […] mir nochmals zu sagen, wen ich anschreiben oder ansprechen soll, um die von Ihnen ins Auge gefasste engere Mitarbeit der IPV in die Wege zu leiten und zu realisieren. […] Ich danke Ihnen nochmals für alle Ihre bisherigen und vor allem auch für die in Aussicht gestellte zukünftige Unterstützung und verbleibe – auch mit herzlichen Grüßen an Frau Fichtl – mit besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener Friedrich Hacker.“ (Brief von Friedrich Hacker an Anna Freud, 27. September 1972, Archiv der Sigmund Freud Gesellschaft/des Sigmund Freud Museums). Wenig später sollte Anna Freuds Unterstützung in einen „offenen Brief“ münden, den sie an die IPV-Mitglieder mit der Bitte richtete, Bücher zu spenden, damit das Museum als ein Ort „der psychoanalytischen Gegenwart“ (Anna Freud, Offener Brief an die Mitglieder der IPV, 1972, Archiv der Sigmund Freud Gesellschaft/des Sigmund Freud Museums) etabliert werden könne; ein Anliegen, das sie schon in ihrem Abschlussvortrag am letzten Kongresstag im Juli 1971 geäußert hatte.

Die Schenkungen Anna Freuds und jene ihrer Familie, Kolleginnen und Kollegen bildeten bald nicht nur den Grundstock des Museumsarchivs, sondern ebenso jenen der Bibliothek, die mittlerweile zur größten ihresgleichen in Europa avancierte. Von Hans Lobner wurden noch Mitte der 1970er die ersten Bibliotheksräume in jenen berggassenseitig gelegenen Räumen eingerichtet, in denen vormals Anna Freud gelebt und 1923 ihre Praxis für Kinderanalyse eingerichtet hatte. Unter der Führung von Harald Leupold-Löwenthal (Harald Leupold-Löwenthal, Psychiater und Psychoanalytiker, hatte 1971-1996 die Position des Direktors des Sigmund Freud Museums inne, wirkte nach Friedrich Hacker von 1983-1999 auch als Präsident der SFG und wurde für die Jahre 1979-1980 und 1980-1982 zum Vorsitzenden der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gewählt), Hans Lobner (Hans Lobner, Psychiater und Psychoanalytiker, war 1974-1986 als Kustos und bis 1990 als Bibliothekar für das Sigmund Freud Museum tätig) und Ella Lingens (Ella Lingens, Ärztin und Juristin, war 1972-1982 im Vorstand der SFG und darüber hinaus bis 1987 Generalsekretärin des Sigmund Freud Museums. Als Widerstandskämpferin wurde sie 1942 in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Theresienstadt und Dachau interniert und war nach dem Krieg als Ministerialbeamtin der Zweiten Republik wesentlich am Aufbau des österreichischen Gesundheits- und Sozialwesens beteiligt. Ella Lingens und ihr erster Ehemann Kurt Lingens wurden 1980 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet) wurden Veranstaltungen organisiert, deren interdisziplinäre Ausrichtung für die Programmkonzeption der folgenden Jahrzehnte richtungsweisend bleiben sollte.

Schon ab 1970 fand jährlich, meist um Freuds Geburtstag am 6. Mai, die „Sigmund Freud Vorlesung“ statt: Mit ihren internationalen Vortragenden aus den Bereichen Psychoanalyse, Philosophie, den Geistes-, Kultur- und Kunstwissenschaften zählt sie im Sigmund Freud Museum auch heute noch zu den wichtigsten Programmpunkten des jeweiligen Veranstaltungsjahres. Von 1975 bis Ende der 1990er wurde das „Sigmund Freud Haus Bulletin“ herausgegeben, in dem stets aktuelle Beiträge zur psychoanalytischen Lehre und Forschung publiziert wurden. Die Aufgabe, Sigmund Freuds umfassendes Erbe in seiner einstigen Heimatstadt und über deren Grenzen hinaus zu bewahren, zu erforschen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, stand von Beginn an im Interessensmittelpunkt der damaligen sowie aller zukünftigen Museumsverantwortlichen. Doch seit der Gründung der SFG gestalteten sich interne und externe Diskussionen über ihre Funktion und Bedeutung konfliktreich. Schon in der konstituierenden Sitzung 1968 gab Friedrich Hacker zu Protokoll, dass „gewisse noch bestehende Interpretationsdifferenzen mit der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ bestünden, versicherte aber, „dass diese Anfangsschwierigkeiten bald überwunden sein werden“ (Protokoll über die konstituierende Versammlung zur Gründung einer Sigmund Freud-Gesellschaft in Wien am 28. November 1968, Archiv der Sigmund Freud Gesellschaft/des Sigmund Freud Museums, S. 2), nicht ohne zuvor darauf zu verweisen, dass die legitime und (zum damaligen Zeitpunkt - der 1947 gegründete Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, der unter der Präsidentschaft von Elisabeth Mayer 1988 in Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse (WAP) umbenannt wurde, wurde 2013 Mitgliedsgesellschaft der IPV) alleinige Repräsentanz der IPV in Wien die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) sei.

Wenn auch die IPV als übergeordneter Weltverband der Psychoanalytiker:innen und Anna Freud den Aufbau einer weiteren Freud Gesellschaft in Wien beförderten, so muss deren Neugründung bei so manchen Vertreter:innen der WPV zumindest Skepsis ausgelöst haben: Direkt aus Freuds Psychologischer Mittwoch-Gesellschaft im Jahr 1908 hervorgegangen, kann die WPV hinsichtlich ihrer historischen und institutionellen Genese als die Erstgereihte in der Erbfolge ihres Gründungsvaters Sigmund Freud aufgefasst werden. Auch scheint es verständlich, dass die WPV im Hinblick auf jenen Ort, an dem sie einst ins Leben gerufen worden war, wenn auch nicht um ihre „Hausmacht“ so doch um ihr „Wohn- und Bleiberecht“ fürchtete. Nicht ganz zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.

Versuche, die Gründungsmutter zur Lösung dieser symbiotischen Verstrickungen heranzuziehen, schlugen fehl. So warnt Friedrich Hacker nach einem Treffen mit der Stifterin in seinem Bericht vom Mai 1974 eindrücklich davor: „Dr. A. F. [Anna Freud] legt größten Wert darauf, dass es in Wien keinen Streit gibt. Erwartet nicht, dass alle einander lieben, würde sich aber bei Spannungen distanzieren. Mein Eindruck war, dass es grundfalsch und abträglich wäre, Dr. A. F. in irgendeiner Frage in eine Schiedsrichter-Position zu drängen. Unverminderte Wertschätzung für alle in Wien Beteiligten, wäre für friedlich-sachliche Zusammenarbeit aller sehr dankbar.“ (Friedrich Hacker, Ergänzung zum 29. Bericht (Reise Lobner nach London), am 27. 5. 1974, Archiv der Sigmund Freud Gesellschaft/des Sigmund Freud Museums.) Doch auch in den folgenden Jahrzehnten blieben Richtungs- und Kompetenzkonflikte in der heimischen Freud-Szene nicht aus. Häufig waren die Protagonist:innen zur selben Zeit in unterschiedlichen Institutionen in führenden Positionen tätig und/oder mit Entscheidungen konfrontiert, die nicht auf psychoanalytischer Expertise, sondern vornehmlich auf kultureller, museologischer oder politischer gründeten: Umstände, die kaum geeignet waren, Dissonanzen aufzuheben oder Missverständnissen vorzubeugen. So fand sich die Melange der Psychoanalyse rund um das Sigmund Freud Museum immer wieder spannungsgeladenen Situationen ausgesetzt, die sich letztendlich auch in institutionellen Veränderungen entladen sollten.

2003 wurde dem Wiener Reigen der Freud-Institutionen mit der Gründung der Sigmund Freud Privatstiftung eine weitere hinzugefügt, die seither das Museum, sein Archiv und die heutige „Bibliothek der Psychoanalyse“ betreibt. 2006 brachte die Stadt Wien zur 150. Wiederkehr von Sigmund Freuds Geburtstag das Haus Berggasse 19 als Schenkung in die gemeinnützige Stiftung ein, die seither als Eigentümerin das Privileg genießt, Freuds „Kulturwerk“ (Thomas Mann bezeichnet in seiner Festrede „Freud und die Zukunft“ zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag Sigmund Freuds Wirken als „Kulturwerk“; In: Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie ihre Grenzgebiete und Anwendungen XXII. 1936 Heft 3, S. 274) an seinem Entstehungsort zu vermitteln. Im Dezember desselben Jahres gründeten der Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse und die Wiener Psychoanalytische Vereinigung die Wiener Psychoanalytische Akademie, die sich als ein „Zentrum für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“ neben der Lehre, ebenso der Forschung, und Vermittlung der Psychoanalyse sowie dem interdisziplinären Austausch widmet.

Wenden wir uns nun wieder der Gegenwart zu, so vergessen wir doch nicht auf all jene Expert:innen der Psychoanalyse und anderer Disziplinen aus den Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften, auf die Museumsfachleute, Jurist:innen, Wirtschafter:innen, Vertreter:innen der Politik sowie private Unterstützer:innen, die in den letzten Jahrzehnten auf vielfältigste Weise und in unterschiedlichen Positionen dazu beigetragen haben, dass Freuds ehemalige Wirkungsstätte zu dem Kulturstandort wurde, der sich heute den Besucher:innen aus aller Welt präsentiert. Sie alle zu nennen, würde den hier vorgegebenen Rahmen bei weitem sprengen. Ebenso wie eine detaillierte Darstellung der für uns so bedeutenden Entwicklungsgeschichte der Sigmund Freud Gesellschaft (SFG), die – wenn auch von der SFG und der Sigmund Freud Privatstiftung als Kooperationsprojekt geplant – noch ihrer Umsetzung harrt.

An dieser Stelle sei auch kurz auf eine neue Sonderausstellung hingewiesen, da diese mit dem heurigen Gründungsjubiläum in ursächlichem Zusammenhang steht: Ab November 2021 wird im Sigmund Freud Museum eine Sonderausstellung über die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien – über die Flucht der jüdischen Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vor dem Nationalsozialismus – zu sehen sein, die auf den umfassenden Recherchen der „Arbeitsgruppe zur Geschichte der Psychoanalyse der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse“ beruht. Und es gäbe heute, fünfzig Jahre nach der Museumsgründung, noch weitere, gemeinschaftlich erarbeitete oder internationale und interdisziplinäre Vorhaben zu nennen, die der einstigen Forderung Anna Freuds nach „friedlich-sachlicher Zusammenarbeit“ (siehe oben) entsprechen. 1975 fasste sie ihre Vorstellungen noch einmal zusammen: „Die Ziele der Sigmund Freud Gesellschaft unterscheiden sich in mancher Hinsicht von den Funktionen der offiziellen psychoanalytischen Organisationen. Während die Zweigvereinigungen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung den einzelnen Analytikern dienen und die analytischen Lehrinstitute für künftige Generationen von Psychoanalytikern arbeiten, ist die Wiener Neugründung bemüht, ihren Mitgliedern die Anfänge der Psychoanalyse in Wort und Bild zu vermitteln und auf diese Weise Bindeglieder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der analytischen Bewegung darzustellen. Zum Unterschied von den über die ganze Welt verstreuten psychoanalytischen Verbänden ist die Sigmund Freud-Gesellschaft ortsgebunden. Die Stelle, an welcher der Gründer der Psychoanalyse gelebt und gearbeitet hat, erweckt in dem Besucher Hoffnung, dass – über die photographische Dokumentation historischer Tatsachen hinaus – hier auch ein Abglanz des Pioniergeistes zu finden sein wird, dem die Psychoanalyse ihre Entstehung verdankt, und der wesentlich ist, um die Erhaltung und Weiterbildung unter den Bedingungen unserer heutigen Welt zu sichern.“ (Anna Freud, „Der Sigmund Freud Gesellschaft zum Geleit“, in: Briefe Anna Freud, Archiv des Sigmund Freud Museums, Inv. Nr.: 29/25.)

Im Blick zurück tritt die Übereinkunft zwischen der aktuellen Orientierung des Sigmund Freud Museums und Anna Freuds Intentionen deutlich zu Tage: Die einst so eloquent formulierten Gedanken über die Bedeutung des Hauses stellen für uns heute eine Maßgabe dar, die wir seit 2020 zum Gutteil auch in der Neukonzeption des „Ursprungsorts der Psychoanalyse“ verwirklicht sehen.

Monika Pessler
Direktorin
Sigmund Freud Museum

Barbara Pflaum (1912, Wien - 2002, ebenda)

Fotografie ist ein Erinnerungsmotor. Kein anderes Medium vermag es so gut und präzise, die Vergangenheit in die Gegenwart zu führen. Fotografie ist aber mehr als simple Dokumentation, ihre Wirkung ist auch von der Herangehensweise und der Perspektive der bzw. des Fotografierenden geprägt. So gelingt es Barbara Pflaum mit ihrer für die Betrachterin und den Betrachter spürbaren Präsenz, Momente der Zeitgeschichte wiederzubeleben. Ihre mitunter kritisierte technische Ungenauigkeit erweist sich dabei als wesentlich: So erzeugen Pflaums Bilder immer wieder eindrucksvoll das Gefühl des Dabei-gewesen-Seins.

Valerie Loudon
Fotografin und Enkelin Barbara Pflaums

Biografie

   
10.1.1912

Barbara Pflaum wird als jüngstes von sechs Kindern in eine wohlhabende Wiener Familie geboren und auf den Namen Hansi Barbara Gebhardt getauft.

1931 - 1934

Nach der Matura in Klosterneuburg Besuch der Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien (Modeklasse Prof. Eduard Josef Wimmer-Wisgrill)

1934

Heirat mit Peter Pflaum und Umzug in die Familienvilla nach Altenberg. Barbaras schwester Gretl lebt ebenfalls in Altenberg und heiratet den späteren Nobelpreisträger Konrad Lorenz.

1936 - 1942

Geburt der Kinder Barbara, Monika und Hannes.

1948 - 1952

Nach der Scheidung setzt Barbara Pflaum ihr Studium an der Hochschule für angewandte Kunst fort und schließt die Grafikklasse von Prof. Paul Kirnig mit Diplom ab.

1952

Sie bekommt von Herbert Tichy ihre erste Kamera, eine Rolleiflex, geschenkt.

1950er - 1996

Mitgliedschaft beim Sydikat der Pressefotografen, Pressebildagenturen und Filmreporter Österreichs.

1955 - 1977

Anstellung als Pressefotografin bei der Wochenpresse. Regelmäßige Mitarbeit bei den Zeitschriften Theater heute und Die Bühne.

1957

Gemeinsame Fotoausstellung mit Charlotte Till im Wiener Konzerthaus.

1958

Einzelausstellung im Wiener Konzerthaus.

Ab 1959

Zahlreiche Gruppenausstellungen.

1961 - 1987

Zahlreiche Buchpublikationen.

1983

Einzelausstellungen in der Galerie Ulysses in Wien und in der Neuen Galerie in Linz.

1986

Silbernes Ehrenzeichen der Stadt Wien.

2002

Barbara Pflaum stirbt in Wien.

2006

Retrospektive im Wien Museum.

 

SIGMUND-FREUD-GESELLSCHAFT zum Geleit

Die Ziele der Sigmund Freud-Gesellschaft unterscheiden sich in mancher Hinsicht von den Funktionen der offiziellen psychoanalytischen Organisationen, Während die Zweigvereinigungen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung den einzelnen Analytikern dienen und die analytischen Lehrinstitute für künftige Generationen von Psychoanalytikern arbeiten, ist die Wiener Neugründung bemüht, ihren Mitgliedern die Anfänge der Psychoanalyse in Wort und Bild zu vermitteln und auf diese Weise Bindeglieder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der analytischen Bewegung herzustellen,
Zum Unterschied von den über die ganze Welt verstreuten psychoanalytischen Verbänden ist die Sigmund Freud-Gesellschaft ortsgebunden. Die Stelle, an welcher der Gründer der Psychoanalyse gelebt und gearbeitet hat, erweckt in dem Besucher die Hoffnung, daß - über die photographische Dokumentation historischer Tatsachen hinaus - hier auch ein Abglanz des pionierenden Geistes zu finden sein wird, den die Psychoanalyse ihre Entstehung verdankt, und der wesentlich ist, um ihre Erhaltung und Weiterbildung unter den Bedingungen unserer heutigen Welt zu sichern.

Anna Freud, London

 

Anna Freud, „Der Sigmund Freud Gesellschaft zum Geleit“, in: Briefe Anna Freud, Archiv des Sigmund Freud Museums, Inv. Nr.: 29/25.

Anlässlich des Jubiläums haben die zentralen politischen Vertreter:innen und öffentlichen Fördergeber:innen des Sigmund Freud Museums ihre Wünsche übermittelt