
Menschsein
Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Der Mensch ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die Einzigartigkeit eines jeden menschlichen Subjekts ist eine der wichtigsten psychoanalytischen Entdeckungen. Aber was haben die verschiedenen Menschen gemeinsam? Alle Menschen bestehen aus dem gleichen Stoff, dem gleichen Stoff wie die Träume. Diesen Stoff, diese Materie könnte man eine symbolische Matrix nennen.
In dieser Matrix leben die Menschen zusammen. Ein menschliches Subjekt ist offen für ein anderes. Das menschliche Subjekt ist nicht in sich selbst geschlossen; es ist nicht monadisch; es findet seine Fortsetzung in Anderen. Die Menschen sind von einem Mangel gekennzeichnet, einem Mangel an Organischem. Sie sind Hilflosigkeit, wie Freud zu sagen pflegte. Dieser Mangel öffnet Menschen füreinander. Dieser andere Mensch mag ein:e Helfer:in sein, und ein:e Gegner:in sein, aber in erster Linie dient er als Vorbild, als Matrix für den Aufbau des Selbst, als Rollenmodell.
Der Mangel macht das menschliche Subjekt nicht nur menschlich, sondern auch zu einem Überschuss. Ein Subjekt findet seine Fortsetzung im Anderen, im gesellschaftlichen Netz, in der symbolischen Matrix. Mehr noch, die Intimität des Subjekts liegt nicht in ihm selbst, sondern im Anderen, und Lacan tauscht Intimität gegen Extimität aus.
Was ist ein Elementarteilchen der symbolischen Matrix? Der Signifikant. Was ist ein Signifikant? Ein akustisches Bild des Wortes, eine Wortvorstellung. Woraus besteht das Wort? Aus den Buchstaben. Und hier stellt Sigmund Freud die rhetorische Frage, ob es möglich ist, Buchstaben in der Natur zu finden. Der Mensch ist kein natürliches, sondern ein technisches Wesen, oder, wie Freud zu sagen pflegte: der Mensch ist ein „Prothesengott“. Die menschliche Evolution ist eine technologische. Und nun ist es so weit, dass die Prothesen Götter sind, die bereit stehen, die Menschen zu kontrollieren.
Dr. Viktor Mazin, Ph.D., ist praktizierender Psychoanalytiker. Der Gründer des Freud's Dream Museum in St. Petersburg (1999) ist Ehrenmitglied des Museum of Jurassic Technology (Los Angeles) sowie Leiter der Abteilung für theoretische Psychoanalyse am Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse (St. Petersburg), außerordentlicher Professor an der Fakultät für freie Künste und Wissenschaften der Staatlichen Universität St. Petersburg und Ehrenprofessor des Instituts für Tiefenpsychologie (Kiew). Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Russische tätig und war Chefredakteur der Zeitschrift Kabinet und Mitglied der Redaktionsausschüsse folgender Fachzeitschriften: Psychoanalysis (Kiew), European Journal of Psychoanalysis (Rom), Transmission (Sheffield), Journal for Lacanian Studies (London). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher über Psychoanalyse, Dekonstruktion, Kino und bildende Kunst verfasst.