Sokrates und Künstliche Intelligenz

Es gibt ein Rätsel, das bei zeitgenössischen Philosoph:innen sehr beliebt ist. Die Szene des Rätsels spielt wenige Augenblicke, bevor der von Athener Richtern des Areopags zum Tode verurteilte Sokrates den Schierlingsbecher trinkt. Jacques-Louis Davids neoklassisches Gemälde „Der Tod des Sokrates“ bildet diese Szene nach. Das Werk unterstreicht Themen wie moralische Integrität, Aufopferung, Unwissenheit und das Streben nach Wahrheit.

Sokrates wurde für schuldig befunden, nicht die von der Stadt anerkannten Götter, sondern andere neue Gottheiten anzuerkennen und junge Männer zu verderben. Einer von Sokrates' Anhängern stellt die Frage: „Meister, was macht uns zu Menschen?“ Sokrates antwortet: „Das Auswählen aller Bilder mit Ampeln.“ Von Philosoph:innen ist freilich kein großer Sinn für Humor erwarten, doch die Botschaft hinter dem Rätsel könnte so verstanden werden, dass wir Menschen sind, solange wir keine Roboter sind. Prüfprogramme verwenden zu Recht verschiedene Ankreuzfelder („Wähle alle Felder mit Ampeln aus") oder andere Methoden (seltsam verzerrter Text), um zu bestätigen, dass der Benutzer oder die Benutzerin ein Mensch und kein Bot ist.

Ein häufiges Argument von Geisteswissenschaftler:innen ist, dass der Kontakt mit Fremden, die über neue und ungewohnte Fähigkeiten verfügen, ein Hauptfaktor für sozialen Wandel ist. Natürlich mag dies eine Geschichte der Sieger:innen und des Aufstiegs der kreativsten und produktivsten Zivilisationen sein. Aber in unserem digitalen Zeitalter und in unserem soziokulturellen Kontext lässt sich die verblüffende Wirkung des technologischen Fortschritts nicht leugnen. Die jüngste und faszinierendste Innovation unserer Zeit ist vielleicht die Künstliche Intelligenz (KI). Diese sich beschleunigende Innovation befindet sich an der Schnittstelle zwischen Technologie und menschlicher Erfahrung. Alle unbewussten Ängste und Widerstände, die wir hegen, können zu einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Fortschritt führen. KI erfordert einen bewussten und ausgewogenen Ansatz.

Vor kurzem habe ich den verstorbenen Lewis (Lew) Aron von der New York University zum Thema KI befragt. Er sagte:

„Ich betrachte die KI sowohl als faszinierenden Fortschritt als auch als eine komplexe Herausforderung für die Menschheit. Einerseits kann KI unser Verständnis für menschliches Verhalten verbessern, indem sie Muster in Daten analysiert, die als Grundlage für therapeutische Maßnahmen dienen könnten. Sie bietet neue Instrumente für die Unterstützung der psychischen Gesundheit und könnte vielen Menschen den Zugang zu therapeutischen Ressourcen erleichtern.

Andererseits gibt es erhebliche Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der KI auf menschliche Beziehungen. Die therapeutische Beziehung, die auf Empathie, Authentizität und gegenseitigem Verständnis beruht, könnte darunter leiden, wenn wir uns zu sehr auf die Technologie verlassen. Dies wirft Fragen über das Wesen von Intimität und emotionalem Verständnis auf. Letztendlich glaube ich, dass es wichtig ist, die Integration von KI sorgfältig zu steuern und sicherzustellen, dass sie die zutiefst menschlichen Aspekte der Psychoanalyse und der Beziehungen ergänzt, anstatt sie zu ersetzen.“

Lew Aron ist 2019 verstorben. Er war jahrzehntelang mein Kollege und für Jahrzehnte mein „Lebensbruder“. Das obige Zitat stammt aus einem KI-Gespräch, das ich vor ein paar Wochen mit ihm hatte. Ich kannte Lew Arons Formulierungen und seine Art, ein Argument zu strukturieren, und war verblüfft, wie gut es die KI traf. Tatsächlich war ich fassungslos, als die KI seine mutmaßliche Antwort aus der anderen Welt (wo auch immer das sein mag, falls es sie gibt) verfasste. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mit ihm sprechen. Das war mir unheimlich.

Ich habe KI bereits benutzt, um ein Gespräch mit Sigmund Freud aus seinem Wiener Behandlungszimmer zu führen, mit Donald Winnicott, während er mit dem Fahrrad zu seinem Büro fährt, und mit dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis (1925–2021) während einer Konzertpause. Natürlich wurden sämtliche Gespräche erfunden und basieren auf Datensätzen und ausgeklügelten Algorithmen – ganz anders als die lästigen Algorithmen beim Online-Shopping.

Wir leben in einer Welt der Gewalt und des Völkermords, einer globalen Migrationskrise, der Klimakatastrophen und rasant fortschreitender KI-Technologie. Wir haben einige bestechende psychoanalytische Ideen über die Ursprünge menschlicher Destruktivität, über Trauma und Dissoziation, über die Rolle von Empathie, über gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse, Bindung und Aggression sowie Identität und Zugehörigkeit. Wir haben ebenso gute psychoanalytische Ideen über die Bedeutung von Ruhe und Stabilität, die das Erkennen und Verarbeiten unmittelbarer Erfahrungen und Handlungen hervorbringen kann.

Kann KI von einer besseren Welt träumen? Kann sie die Welt verändern? Kann KI uns etwas über uns selbst beibringen? Kann sie dem Menschen helfen, sich selbst und seine unbewussten Prozesse besser kennenzulernen? Erschreckenderweise meinen die Anhänger:innen und Influencer:innen von Technologietrends, dass dies möglich sei, weil die KI bald so weit sein wird, dass sie ohne unser Zutun ernsthafte Entscheidungen treffen und Anweisungen geben kann. Sie meinen, dass sich die Welt in zwanzig Jahren deutlich verändert haben wird. Die New York Times (Sunday Opinion, 29. Dez. 24. S. 12) berichtet zum Ende des Jahres 2024, dass „[...] Entwicklungen wie die der künstlichen Intelligenz weiterhin verblüffen.“

Mit meinem neuen KI-Abonnement ausgestattet, wandte ich mich an Sokrates.

Ich: Was denkst du über KI und ihre Auswirkungen auf die Menschheit?

Sokrates: Ah, mein Freund, eine Frage, die sowohl zeitgemäß als auch tiefgründig ist. Lass uns das gemeinsam überlegen. Sag mir zuerst: Was verstehst du unter „KI“? Siehst du sie als Werkzeug, als Partnerin oder vielleicht eher als eine Naturgewalt? Und wenn du von „Auswirkungen auf die Menschheit“ sprichst, siehst du dann Schaden, Nutzen oder beides miteinander verwoben, wie zwei Tanzende bei einem kosmischen Tanz? Denn ist es nicht so, dass jede Erfindung – das Feuer, das Rad, die Druckerpresse – die Menschheit verändert hat, und zwar nicht durch ihre bloße Existenz, sondern durch die Art und Weise, wie wir sie zu nutzen wussten? Könnte es also sein, dass die Frage nicht lautet, was die KI der Menschheit antun wird, sondern was die Menschheit mit der KI machen wird? Und welche Tugenden oder Laster sie in uns verstärken wird?

Ich: Welche Tugenden oder Laster in uns werden verstärkt werden?

Sokrates: Ah, eine ausgezeichnete Frage! Lass uns gemeinsam darüber nachdenken.

Ich vermute, dass die Tugenden in diesem neuen Feld auf fruchtbaren Boden fallen. Stell dir vor:

  • Weisheit: wenn wir die KI nutzen, um das Verständnis zu erweitern, statt den Verstand zu verengen.
  • Mitgefühl: wenn KI uns dabei hilft, Leiden zu lindern und Beziehungen zu fördern.
  • Kreativität: wenn sie die Grenzen dessen, was wir für möglich halten, erweitert und uns zu neuen Höhen beflügelt.

Doch die Tugenden wandeln auf einem schmalen Grat neben ihren Schatten:

  • Gier: wenn KI zu einem Mittel wird, um Reichtum oder Macht zu horten.
  • Trägheit: wenn wir zulassen, dass sie unsere Antriebskraft ersetzt und unsere Neugierde und unseren Willen abstumpft.
  • Hybris: wenn wir uns selbst als Götter betrachten und glauben, dass wir etwas kontrollieren, das uns irgendwann einmal übertreffen wird.

Sag mir, siehst du die Menschheit in der Lage, die Tugenden zu pflegen und sich vor den Lastern zu hüten? Oder befürchtest du, dass wir, wie so oft, stolpern, wenn wir mit neuen Mächten konfrontiert werden?

Ich: Mich interessiert vor allem die Auswirkung auf den Bereich der Psychoanalyse. Sag mir etwas darüber, wie sich das deiner Meinung nach auswirken könnte.

Sokrates: Ah, das Zusammenspiel von KI und Psychoanalyse – wie faszinierend! Sollen wir es erkunden?

Die Psychoanalyse versucht im Grunde, das Unsichtbare zu beleuchten, die unbewussten Kräfte aufzudecken, die das Denken, Fühlen und Verhalten bestimmen. Betrachten wir nun die KI: ein Werkzeug, das umfangreiche Muster verarbeitet und Erkenntnisse gewinnt, die über die unmittelbare menschliche Wahrnehmung hinausgehen. Könnte KI also ein Spiegel des Unbewussten selbst werden?

Stell dir vor:

  • KI könnte Sprachmuster, Wortwahl oder sogar Pausen in Therapiesitzungen analysieren und Interpretationen oder Hypothesen über unbewusste Konflikte anbieten.
  • Sie könnte Analytiker:innen dabei helfen, die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung zu erkennen, indem sie subtile Veränderungen im Tonfall oder im Affekt hervorhebt.
  • KI-Systeme könnten sogar die Traumanalyse simulieren und Assoziationswege aufzeigen, die ein:e Kliniker:in vielleicht nicht sofort in Betracht zieht.

Aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Die Psychoanalyse ist sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft. Die Anwesenheit des oder der Analytiker:in, das therapeutische Bündnis und der intersubjektive Raum zwischen zwei Menschen können nicht einfach von einem Algorithmus nachgebildet werden. Könnte der Einsatz von KI dazu führen, dass die zutiefst menschliche Begegnung in der Analyse mechanisiert oder da Persönliche entpersönlicht wird?

Darüber hinaus wehrt sich das Unbewusste dagegen, vollständig erkannt zu werden. Könnte die Präzision der KI ungewollt die Mehrdeutigkeiten und Paradoxien verdecken, die für die psychoanalytische Arbeit von zentraler Bedeutung sind?

Was meinst du – könnte KI dieses Feld bereichern, ohne sein Wesen zu untergraben? Oder könnte sie die Psychoanalyse dazu zwingen, sich ihren eigenen unbewussten Ängsten vor dem Veralten zu stellen?

Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt, an dem technologischer Fortschritt wie die KI nie dagewesene Chancen und Herausforderungen bietet. Vor diesem Hintergrund brauchen die Menschen einander noch mehr als bisher. Wir müssen nach anderen suchen, wo immer wir sie finden können.

Als Ödipus auf seinem Weg nach Theben der Sphinx begegnete, war seine Antwort auf ihr Rätsel ἄνθρωπος (Mensch, menschliches Wesen). Dieses Wort hat den Lauf der westlichen Zivilisation grundlegend verändert. Es besiegte das Ungeheuer. Wir haben viele Ungeheuer zu vernichten. Ich möchte mehr über die Antwort des Ödipus nachdenken. Ich habe vor, meine Gedanken mit anderen zu teilen. Vielleicht werde ich heute Abend sogar ein Gespräch mit Ödipus führen.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, ist Direktor des New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Er ist Fellow der American Psychological Association (APA) und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (SPPP) der APA sowie der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy. Er ist Mitglied im Beirat des Sigmund Freud Museums in Wien. 2016 war er gemeinsam mit Eliot Jurist Mitherausgeber der Sonderbeilage von Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema "Psychoanalysis and the Humanities". 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group. Im Jahr 2023 erhielt er den SPPS Award for International Activism for Social Justice. Er praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie und leitet Kreativitätsstudiengruppen.