Menschsein

„Sei ein Mensch!“ oder „Sey a mentsh, un hob rachmuness!“ wie es im Jiddischen heißt – bislang ein anerkanntes Diktum, das Leben nach den Prinzipien der Menschlichkeit auszurichten – ob aus weltlicher oder religiöser Perspektive. Seit jeher schien diese Proklamation geeignet, den menschlichen Individuen und Kollektiven Orientierung zu bieten: von der Antike über die Renaissance, die Aufklärung und Kants Einschätzungen der Menschenwürde bis in die Gegenwart wurde sie immer wieder beschworen, um Gesellschafts- und Rechtsordnungen unterschiedlicher Prägung ein Fundament zu verleihen.

So wirken die idealistischen Zielsetzungen der humanistischen Ethik bis heute und gelten nach wie vor als erreichbar – wenn vielleicht auch erst in einer ferneren Zukunft. Freud, der großes Interesse am Kulturpotenzial der Menschen hegte und vom Erkenntnisvermögen der Wissenschaften überzeugt war, vertraute dabei ganz der „Stimme des Intellekts“: „Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber (…) die Stimme des Intellekts ist leise, sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. (…) Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf (…).“[1]

Tatsächlich verzeichnete das allgemeine Zutrauen in die Möglichkeit menschlicher Zivilisierung auch nach jenen Gewaltakten einen Aufschwung, die Hannah Arendt als Vernichtungsschläge gegen „den Status des Menschseins“[2] bezeichnen sollte: So fanden humanistische Vorstellungswelten im Zuge der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Terrors 1945 im ersten Artikel der Menschenrechts-Charta ihren Niederschlag: die Würde des Menschen sei unantastbar und zudem schützenswert. Nur drei Jahre später wurden „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“ im internationalen Völkerrecht als Strafrechtsbestände verankert.

Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Folgen des letzten Weltkriegs brachte vor allem im Westen politische Leitsätze hervor wie „Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit“[3], dem der hoffnungsvolle Verweis auf einen dauerhaften Frieden eingeschrieben ist. Doch der Abgleich mit den Kriegsverbrechen der jüngeren Geschichte – verübt zum Beispiel in den 1990ern im ehemaligen Jugoslawien, gegenwärtig in der Ukraine, dem Nahen und Mittleren Osten – straft unsere „Erinnerungskultur“ Lügen, die einst so schmerzlich errungen und mit Millionen von Menschenleben bezahlt worden war. Sie scheint aktuell beinahe zu einer reflexhaften Abwehr zu verkommen, die sich gegen das Wahrhaben jener Nachrichten- und Bilderfluten richtet, die täglich von massiver Zerstörung und unfassbarem Leid künden und über die allerorts verfügbaren Medienkanäle unablässig das westliche kapitalistische Dasein fluten.

Es ist unmöglich, sich vor den verhängnisvollen Entwicklungen mit globalen Auswirkungen zu verschließen, die nahezu alle gesellschaftspolitischen Lebens- und Diskursfelder dominieren und dabei die althergebrachten Vorstellungen des Menschseins konterkarieren. Auch im Westen und in jenen Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten von Kriegen verschont ihr Augenmerk vor allem auf ökonomisches Wachstum legen konnten, verhärten sich die Fronten. Es werden jenen politischen Fraktionen Vormachtstellungen eingeräumt, deren Heilsversprechen eine radikale Abschottung vor all den eindringenden Gefahren in Aussicht stellt. Trotzdem schwindet das Gefühl von Souveränität und Sicherheit, das es vormals ermöglichte, voller Inbrunst „Nie wieder!“, oder „Wir schaffen das!“ zu proklamieren.

Die Begegnung mit dem Leid der Anderen nährt die Befürchtung, bald selbst zu jenen gehören zu müssen, deren Schicksale uns virtuell und überwältigend realistisch über die digitalen Netzwerke vermittelt werden. Vor allem die direktere und als Zumutung empfundene Konfrontation mit prekären Flucht- und Lebensumständen von Migrant:innen in den eigenen oder benachbarten Ländern scheint die Grenzen gesellschaftlicher Resilienz zu sprengen. Auch die allerorts spürbare Zuspitzung der Energieknappheit, der klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie der Mangel an glaubhaft, tatsächlich und rechtzeitig funktionierenden Gegenmaßnahmen, destabilisieren das kollektive Bewusstsein. Auch das Individuum senkt den durch Verunsicherung und Angst verengten Blick, der nur mehr das Eigene und höchstens das Nächstliegende wahrzunehmen bereit ist. Es lässt sich kaum mehr ignorieren, dass durch das vielfältige Stakkato weltweiter Krisen und nicht zuletzt durch das vom Menschen konstruierte Alter Ego der Künstlichen Intelligenz das bislang tradierte Menschenbild in Auflösung begriffen ist.

Fragen über das gegenwärtige und zukünftige menschliche Dasein, das mit Freuds Erforschung des Unbewussten und seiner Einsicht, dass „das Ich ist nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ um 1900 noch einmal eine bedeutende Neuformulierung erfahren musste, bilden daher 2025 den thematischen Schwerpunkt unseres Jahresprogramms. Den Auftakt dazu liefern kritische Beiträge unserer Beiratsmitglieder, die aus unterschiedlichen Perspektiven zu den aktuellen und diffizilen Fragen des Menschseins Stellung beziehen. Für die vielschichtigen Beiträge, die uns neben interessanten Einsichten auch wesentliche Denkansätze eröffnen, bedanke ich mich bei:

Jeanne Wolff Bernstein (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse), Herman Westerink (Radboud University Nijmegen), Lisa Appignanesi (King's College London), Oleksandr Filts (Danylo Halytsky Lviv National Medical University), Rubén Gallo (Princeton University), Gohar Homayounpour (Freudian Group of Tehran), Victor Mazin (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg) und Spyros D. Orfanos (New York University).

 

Monika Pessler

Direktorin
Sigmund Freud Museum

 

[1] Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1928), in: Sigmund Freud Gesamtausgabe, Bd. 19., Hg. Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfass, Psychosozial-Verlag Gießen, 2021, S. 46.

[2] Shinichiro Morinaga, Über den Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit - Karl Jaspers und Hannah Arendt, in: The Journal of Liberal Arts and Sciences, University of Toyama, Japan, Vol. 41, 2013

[3] Angela Merkel vor der Knesset, 2008.