
Menschsein
In Zeiten der Unmenschlichkeit – vielleicht größer, zerstörerischer und schneller in ihren Auswirkungen als je zuvor – ist es gut, sich einmal mehr auf das Wesentliche zu besinnen.
Wir leben in einer Welt der Algorithmen, die alles Menschliche auf die Funktion verallgemeinerbarer Regeln und auf das Körperlose reduzieren. Dies geht mit einer toxischen Kombination aus scheinbar unverwundbarem Sein und gedankenloser Unmittelbarkeit einher.
Was bedeutet Menschsein in seiner irreduzibelsten Form? Was haben KI und Algorithmen nicht? Menschsein bedeutet Verbindung von Körpern, organisches Leben im Wandel der Zeit, von der hilflosen Kindheit über ein paar Jahrzehnte scheinbarer Macht bis hin zum hilflosen Alter.
Das Stillleben von Chardin (das ich gerne als „Still, Life“ [„noch immer, Leben“] bezeichne) führt uns zu diesen grundlegenden Aspekten des Menschseins. Der Körper lebt von einem Laib Brot, von Früchten, vom Licht, von der Beziehung zwischen Objekten – einem Objekt oder einer Beziehung, die Schönheit birgt –, und vor allem von der Beziehung zwischen dem sehenden Künstler, der den Pinsel über die Zeit hinweg schwingt, und dem, was gesehen wird. Der Mensch, damit beschäftigt, etwas zu schaffen.
Ich stelle mir gerne vor, dass „Menschsein“ genau das bedeutet: das Licht und sein Fehlen zu erfahren, Beziehung so zu spüren, wie es der Körper tut, sich an jenem Tun zu beteiligen, das Kultur hervorbringt.
Freud hegte nur minimale Hoffnungen für die Menschlichkeit oder Kultur: dass die Lebenskraft über unsere zerstörenden Neigungen triumphieren könnte. Der vorletzte Satz von Das Unbehagen in der Kultur (1930) gipfelt in der Hoffnung, dass sich der „ewige Eros“ im Kampf mit seinem „ebenso unsterblichen Gegner“ durchsetzen wird. Im Jahr 1931, als die Bedrohung durch den Nationalsozialismus näher rückte, fügte Freud seiner Schrift das pessimistischere Ende hinzu. Der „Erfolg“ dieses Kampfes war nun kaum noch abzusehen.
Unser eigener historischer Augenblick spiegelt diese Angst wider. Wie Kafka witzelte: „Es gibt Hoffnung! Aber nicht für uns.“
Um den pessimistischen Größen etwas entgegenzusetzen, ziehe ich Chardin heran, der in seinen bescheidenen und doch auch irgendwie transzendenten Themen immer demütig war. Das Menschsein ist eine Sache des Alltäglichen: die Alltäglichkeit der Gegenstände, der Beziehungen zwischen ihnen, mitunter der Kinder. Und von der Hand, die erschafft. Still, Life.
Lisa Appignanesi OBE (britischer Verdienstorden) ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, Romanautorin und Kulturkommentatorin. Sie war Präsidentin des English PEN, Vorsitzende des Freud Museum London und bis 2020 Vorsitzende der Royal Society of Literature, deren Vizepräsidentin sie jetzt ist. Außerdem ist sie Gastprofessorin am King's College London. Zu ihren nichtfiktionalen Publikationen gehören u.a. Everyday Madness: On Grief, Anger, Loss and Love (2018), Trials of Passion: Crimes in the Name of Love and Madness (2014), All About Love: Anatomy of an Unruly Emotion (2011), das preisgekrönte Mad Bad and Sad: A History of Women and the Mind Doctors from 1800 (2008); Freud's Women (1992/2005, mit John Forrester) und ein biografisches Porträt von Simone de Beauvoir (2005). Sie ist außerdem Autorin der von der Kritik gelobten Familienerinnerungen Losing the Dead (1999) und von neun Romanen, darunter The Memory Man (2004, ausgezeichnet mit dem Holocaust Fiction Prize) und Paris Requiem (2001/2014).