Künstliche Intelligenz: Entsteht sie aus unserer Liebe zur Täuschung?

Warum treibt die Menschheit die KI-Technologie so rasant voran mit der sie ihre eigene Zerstörung zu planen scheint? KI ist nur die neueste Ausprägung des menschlichen Wunsches, mit großem Enthusiasmus Geräte und Technologien zu erfinden und herzustellen, die den Menschen nachahmen, um ihn letzten Endes zu ersetzen. Der Mensch scheint die einzige Spezies zu sein, die ihre eigene Auslöschung erfindet. Was treibt uns Menschen dazu?

Seit Jahrhunderten ist die Menschheit von Geräten und Maschinen fasziniert, seien es mechanische Werkzeuge oder Automaten wie Olimpia aus E.T.A. Hoffmans Der Sandmann. In diesem Märchen werden die Leser:innen in eine Scheinwelt gelockt, in der der Mensch nicht mehr vom Nicht-Menschen unterschieden werden kann. Was mit Amüsement und fast orgiastischem Vergnügen beginnt, wie Nathaniels Tanz mit Olimpia zeigt, endet in einer Orgie der Selbstzerstörung, wie Freud in seiner Schrift „Das Unheimliche“ (1919) treffend beschreibt.

Jacques Lacans Konzept des Spiegelstadiums (1936/1949) kann möglicherweise erklären, woher die Neigung des Menschen kommt, nach Mitteln der Täuschung zu suchen, um das eigene Selbstbild zu vergrößern. Das Spiegelbild reflektiert nicht, sondern konstituiert vielmehr den Kern unserer menschlichen Identität und verleitet uns dazu, uns mit einem Trugbild zu identifizieren. Daher scheinen wir gezwungen zu sein, voller jouissance nach Doppelgänger:innen zu suchen, die vollständigere Versionen von uns selbst versprechen – gleichzeitig aber auch unseren menschlichen Untergang ankünden.

In das Drama des Spiegelstadiums hineingestoßen und von einem Gefühl der Unzulänglichkeit getrieben, sehnt sich der Mensch nicht mehr nur nach visuellen, sondern auch nach auditivem und symbolischem Ersatz, wie sie die KI tagtäglich entwickelt. Hat die künstliche Intelligenz in ihren verschiedenen Ausprägungen die Position von Freuds „Prothesengott“ (1930) erreicht, oder wird der Mensch am Ende erkennen, dass er durch sein unstillbares Allmachtstreben einmal mehr zu seiner eigenen Auslöschung verführt wurde?

 

Jeanne Wolff Bernstein, Ph.D., ist ehemalige Präsidentin, Supervisorin und Analytikerin am Psychoanalytic Institute of Northern California (PINC), San Francisco. Sie ist Mitglied des Lehrkörpers des PINC und des NYU Post-Doctoral Program for Psychoanalysis and Psychotherapy. Sie war 2008 Fulbright-Freud Visiting Lecturer of Psychoanalysis am Sigmund Freud Museum in Wien. Sie ist Mitglied und Vorstandsmitglied des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse und arbeitet heute als Psychoanalytikerin in Wien. Sie hat zahlreiche Artikel zu den Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht. Vor kurzem erschien ihr Buch über Édouard Manet, The Lure of the The Gaze and the Past.