
Menschsein
Die Frage, was den Menschen ausmacht, steht im Zentrum von Freuds Schriften – und es ist eine Frage, die mannigfaltig beantwortet wird. Von all den Antworten möchte ich nur eine hervorheben, die mir besonders relevant und aufschlussreich für jene Krisenzeiten erscheint, mit denen wir in unserem Zeitalter der ökologischen Katastrophen und der verheerenden gewaltsamen Konflikte konfrontiert sind. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg befasst sich Freud mit zwei Problemen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Was hat die Psychoanalyse über das Phänomen des „Granatschocks“ zu sagen? Und was macht die Psychologie einer Masse aus? Die erste Frage führt Freud in Jenseits des Lustprinzips dazu, den psychischen Zusammenbruch von kriegstraumatisierten Patienten, die ihre schrecklichen Situationen in den Schützengräben immer wieder durchleben müssen, mit der elementarsten einzelligen lebenden Substanz zu vergleichen, einem „undifferenzierte[n] Bläschen“ (Zelle), das in einer feindlichen Umgebung das Sterben „noch leicht“ habe. Im Laufe der Zeit erwirbt sie die Fähigkeit, sich zu schützen, indem sie ihre Oberfläche in eine anorganische Hülle verwandelt. Sie stirbt teilweise, um zu überleben. Die Antwort auf die zweite Frage lautet: „durch Bindung“ – eine Gruppe ist ein Netzwerk von libidinösen Bindungen. Und dies findet auch seinen Weg in Jenseits des Lustprinzips. Ein Körper – ein menschlicher Körper – entsteht dadurch, dass sich Zellen und Organe zusammenschließen und zusammenarbeiten, um das Leben zu verlängern. Der radikale und bewegende Gedanke, den Freud hier zum Ausdruck bringt, ist für mich die kühne Analogie zwischen dem Menschen und einzelnen Zellen. So verletzlich und doch so widerstandsfähig.
Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.