Radikale Hoffnung

In Jonathan Lears bedeutendem Buch Radikale Hoffnung: Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung erzählt Lear, dass Plenty Coups, der letzte große Häuptling der Crow Nation, kurz vor seinem Tod seine Geschichte erzählte – bis zu einem gewissen Punkt. „Als die Büffel weggingen, fielen die Herzen meines Volkes zu Boden, und sie konnten sie nicht wieder aufrichten. Danach geschah nichts mehr“ (Lear, 2020).

Genau an diesem Punkt – angesichts der völligen Verwüstung, des unvorstellbaren Verlusts und des kulturellen Zusammenbruchs, mit denen wir heute so brutal vertraut sind – wird es verführerisch, in den Abgrund des Katastrophismus zu stürzen. Genau an diesem entscheidenden Punkt, angesichts der völligen Verwundbarkeit, einer Verwundbarkeit, die dem Menschen freilich nicht fremd ist, bietet Lear seine Vision der Radikalen Hoffnung an. Diese sollte dezidiert nicht mit Hoffnung verwechselt werden.

Die Symptomatologie der Hoffnung ist ein Kontinent, der nicht allzu weit von der Lacan‘schen jouissance (Lacan, 1961) entfernt ist. Betrachtet man die Freud'sche Landkarte der Psyche, so sind ihre Grenzen im Wesentlichen klar. Denn man kann auf seine Unsterblichkeit hoffen; auf einen ödipalen Triumph; auf grenzenlose Möglichkeiten des Genusses und der Entscheidungen. Hoffnung auf das Wieder-Finden einer fusionellen Beziehung zu seinem primären Liebesobjekt; Hoffnung auf ein Leben ohne Frustration, ohne Trennung oder Störung; Hoffnung auf allmächtige Möglichkeiten und Vollständigkeit in sich selbst und im Anderen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hoffnung mit der jouissance und übermäßiger Lust im Bereich des Todes verbunden ist, während die Hoffnungslosigkeit eine klare Verbindung zu Verzicht, begrenzten Wahlmöglichkeiten, Freiheit, Lust, Leidenschaft und Leben hat. So sagt Nietzsche: „Die Hoffnung ist in Wirklichkeit das schlimmste aller Übel, weil sie die Qualen des Menschen verlängert.“ (Nietzsche, 1908). Aber dieses nietzscheanische Fundament ist nicht als pessimistische oder nihilistische Position zu lesen, sondern im Gegenteil als ein „Ja“ zum Leben, als die Bejahung eines aktiven Pessimisten, eines leidenschaftlichen Pessimisten, denn das Leben erwartet nur das Hoffnungslose. Anders gesagt: Die Hoffnung wird zum Schutz vor einem „allzu menschlichen“ Leben.

In gewisser Weise werden also innerhalb der Freud’schen Ausarbeitung der Psyche die Hoffnungsvollen und die Katastrophisierer:innen gleich, und beide Gruppen leben nicht leidenschaftlich in der Ethik des Sozialen, beide sind schlaflos geworden und haben Angst vor ihren Albträumen. Denn die Katastrophisierer:innen und die Hoffnungsvollen weigern sich, den unvermeidlichen Verlust des Paradieses zu betrauern, es gibt die Verweigerung, sich den eigenen Wunden und denen des Anderen zu stellen. Das Ergebnis ist, dass sie in den konkreten narzisstischen Zustand der Melancholie verfallen, ohne die Fähigkeit zu symbolisieren, ohne den Verlust zu betrauern und sich den Grenzen zu stellen. In beiden Kategorien gibt es einen ständigen Wunsch nach der Möglichkeit einer rundum perfekten Welt ohne Störungen und Frustrationen, und ohne die unausweichliche Gefahr eines vollständigen Rückzugs und absoluter Passivität angesichts der unvermeidlichen Enttäuschung eines solchen Wunsches.

Radikale Hoffnung hingegen ist das Handeln mit Hoffnung in Abwesenheit nicht nur einer rationalen Rechtfertigung für die Hoffnung, sondern in Abwesenheit der konzeptionellen Bausteine, aus denen eine bessere Zukunft konstituiert werden könnte (vgl. Lear, 2020). Hier bewegen wir uns von der moralischen Feigheit der Hoffnung à la Nietzsche hin zu einer Ethik, die in die Radikale Hoffnung eingebettet ist, die Teil einer Ethik des Lebens und nichts anderem, des Erotischen und des Sozialen ist. In der Nachfolge Lears: Wie soll man mit der Möglichkeit umgehen, dass die Welt, wie man sie kennt, zusammenbrechen könnte? Das ist eine Verwundbarkeit, die uns alle betrifft, denn wir alle sind Menschen und Teil der Zivilisation, und Zivilisationen selbst sind anfällig für einen Zusammenbruch. Wie sollten wir angesichts oder gerade wegen einer solchen Verwundbarkeit leben – und nicht nur überleben? Können wir einer solchen Herausforderung auf eine Weise begegnen, die ethisch, unvorhersehbar, leidenschaftlich und gemeinschaftlich ist – alles Ableitungen der Radikalen Hoffnung –, oder wählen wir die sehr vorhersehbare, konkrete, geschlossene, traumlose Versuchung des Katastrophismus?

In gewissem Sinne ist der Begriff der Radikalen Hoffnung eine psychische Position, die in die Fähigkeit zu träumen eingebettet ist, eine Position, die trotz auferlegter soziopolitischer Traumata aufrechterhalten wird. Es ist ein Nein zu den inneren und äußeren Traumatisierungen, nicht aus einem Gefühl der Verleugnung heraus oder aus irgendwelchen liberalen Vorstellungen von Heilung, sondern weil die Fähigkeit zu träumen, zu werden, nicht trotz unserer Wunden, sondern wegen ihnen, nicht losgelassen wird.

Es scheint, dass der Katastrophismus besonders verführerisch ist, wenn es um bestimmte Geografien geht. Die Idee einer Radikalen Hoffnung ist für bestimmte Länder und Völker durch innere und äußere Kräfte definitiv und leicht auszuschließen. So werden die Katastrophisierer:innen und die innere katastrophisierende psychische Position in dem Moment zu Traumatisierer:innen, in dem sie darauf hinweisen, dass jede Möglichkeit einer radikalen Hoffnung ausgeschlossen ist, zum Beispiel durch ihre Rücksichtnahme oder deren Fehlen gegenüber bestimmten Ländern und Völkern... Das Erste, was in den Traumatisierten getötet wird, ist die Fähigkeit zu träumen. Die heutigen Traumatisierten werden zu den Katastrophisierer:innen der Zukunft, denn sie können nicht mehr träumen ... Jeder Katastrophisierer ist also ein traumatisierter Nicht-Träumer, und wir müssen die Katastrophe in einen Traum verwandeln. Nicht aus einem Gefühl der Verleugnung oder des oberflächlichen Optimismus oder der Hoffnung heraus, sondern als Aufforderung, die Traumarbeit nicht auszuschließen aus einer Vision der Radikalen Hoffnung, einer Ethik des Sozialen. Wir schließen uns nicht in das Gefängnis ihrer festen und definitiven Erzählung ein, denn der Hoffende und die Katastrophisiererin haben alles von vornherein durchschaut. Denn das wäre der Zusammenbruch der Phantasie: kein Spiel, keine Neugier, eine Resignation der Leidenschaften und Wünsche. Und ohne Wünsche gibt es keine Traumarbeit im besten Sinne unserer Freud‘schen Metapsychologie.

Die Radikale Hoffnung ist letztlich die objektivierende Funktion des Lebenstriebs (Green, 1999), sie ist der Wunsch nach Gemeinschaft, nach einem Sinn für Geselligkeit, nach einem „Ich“, das nur durch den Anderen möglich wird. Die Radikale Hoffnung ist im Wesentlichen die Ethik des Sozialen. In gewissem Sinne lauern die Katastrophisierer:innen also im Land der Psychotiker:innen, bestenfalls sind sie Paranoiker:innen und schlimmstenfalls todlangweilig, gefangen in einer Regression zum Nicht-Symbolischen, einem Ort, an dem es weder Ironie, Poesie noch Zweifel gibt, allesamt Derivate des Erotischen. Was eine Frage der Ethik ist, einer Ethik des Lebens und seiner Bedingungen: nicht, weil man den Tod oder die zerstörerischen Fähigkeiten des Todestriebes, innerlich und äußerlich, leugnet, sondern gerade, weil man ihn in sich selbst und dem Anderen aufgenommen hat.

Können wir ein Leben führen, das ethisch, leidenschaftlich und genussvoll ist und nicht nur eine Bedingung des Überlebens ist – das heißt der eingebildeten Illusionen und falschen Versprechungen der Hoffnung –, sondern innerhalb der Gemeinschaft, die Teil des denkenden Subjekts ist und zu einem sozialen Verantwortungs- und Freiheitsgefühl führt? Was a priori voraussetzt, dass man die Fähigkeit entwickelt, zu trauern. Katastrophisieren ist eine Weigerung, die Abwesenheit zu betrauern, und es ist ein narzisstischer Wunsch, weder unsere Allmacht noch die des Anderen aufzugeben; es ist eine Weigerung, sich der Abwesenheit, der Störung und der Begrenzung zu stellen; es ist ein Nein zu den Grenzen des Realitätsprinzips mit all seinen Begrenzungen und Verzögerungen. Moral funktioniert hier gewiss nicht, denn sie stärkt das strafende Über-Ich, das so eng mit dem Es verbunden ist. Die Radikale Hoffnung ist ein Marsch in Richtung des Werdens zu einem denkenden/ethischen Subjekt.

Denn Hannah Arendt erinnert uns daran, dass „ein Leben ohne Denken […] durchaus möglich ist“; es scheitert dann daran, sein eigenes Wesen zu entwickeln, „es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht recht lebendig“ (Arendt, 1960). Ein denkendes/sehnsüchtiges Subjekt entsteht durch die Bindung an den Anderen; nicht aus einem Gefühl der Zugehörigkeit, das letztlich jeden intimen Kontakt isoliert, sondern zu einer Un-Zugehörigkeit. Diese Un-Zugehörigkeit ist der notwendige Schritt zum Werden des ethischen Subjekts, das sich der Außenwelt öffnet. Es ist nicht in den Gefängnissen von Clans, Gruppen, Familien, Ländern, religiösen Gruppen und Ideologien gefangen. Denn jeder Versuch der Zugehörigkeit ist eine unvollendete Trauer, jeder Versuch der Zugehörigkeit ist eine Verweigerung der Abwesenheit, ist eine Verweigerung des Verlustes. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit mag uns die Illusion von Sicherheit geben, aber es wird unweigerlich in Dantes Inferno enden, ohne dass Virgil in Sicht ist, wie wir derzeit in verschiedenen Kontexten der Welt beobachten können.

Können wir aus unserem gegenwärtigen Alptraum aufwachen (Alpträume sind nichts anderes als gescheiterte Träume) und den Weg in das Land der Traumarbeit finden? Dies erfordert eine Radikale Hoffnung, die a priori erfordert, der Sprache ihre Metaphorik zurückzugeben, ein inneres Gefühl des Vertrauens zu haben, dass wir alle miteinander verbunden sind; dieses Gefühl der Ethik ist keine Moral, die oft nach Blut riecht. Sondern es geht darum, sich all dem zu stellen, was in unserem Inneren inakzeptabel/anfechtbar ist, unseren dunkelsten, seltsamsten Geheimnissen, unserer Sexualität und dem Todestrieb, der unweigerlich in uns allen pulsiert, am Rande der Sprache. Über Gut und Böse hinauszugehen, nicht aus einem liberalen Gefühl der Empathie oder der Heilung, nicht aus dem Wunsch, unsere Wunden oder die der Anderen zu heilen. Sondern aus einem Gefühl unserer Verbundenheit heraus, anerkennend, dass diese Ethik des Sozialen jeder befreienden Praxis zugrunde liegen muss, und um an unser gemeinsames menschliches Erbe, an unsere gemeinsame Zerbrechlichkeit erinnert zu werden. Diese gemeinschaftliche Erinnerung und gemeinsame Verletzung unseres Narzissmus werden zu einem willkommenen Boten, zu einem Weg, um letztlich wieder zu erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind, nah und fern, in Krankheit und in Gesundheit.

Radikale Hoffnung ist ein sozialer/ethischer Akt des Widerstands gegen Ideologien, keine Rebellion ohne Grund, sondern ein revolutionärer Widerstand, ein Ereignis, das verschiedene Bedeutungsebenen stört, intern/extern, privat und öffentlich, persönlich, politisch, gesellschaftlich und den Diskurs der Subjektivität selbst. Nicht im Namen der Gleichheit, die nur ausgrenzt, sondern für die Differenz, mit dem echten Verständnis, dass unsere Emanzipation von Natur aus miteinander verwoben ist.

Der Büffel ist verschwunden. Können wir beginnen, ihn uns vorzustellen und zu benennen? Zuerst müssen wir lernen zu verlieren, am Rande der Konstruktion/Zerstörung, am Rande des Begehrens, indem wir der Ethik des Sozialen den Vorrang geben; nicht in den Grenzen unserer provinzlerischen Zugehörigkeit, sondern innerhalb eines subversiven Trotzes, der ein revolutionärer Anfang sein kann, der eng mit dem Tragen/Entblößen der psychischen Position der Radikalen Hoffnung verbunden ist.

Denn Arendt (1960) hat Recht, wenn sie sagt, dass Freiheit identisch sei mit der Fähigkeit zu beginnen. Sollen wir das Unerwartete tun? Immer wieder neu beginnen, wenn nicht hier, dann dort. Wenn nicht jetzt, so doch bald. Anderswo ebenso wie hier (vgl. Sontag, 2007).

 

 

Hannah Arendt (1960), “Freedom and Politics: A Lecture”, in: Chicago Review 14, H.1, S. 8–46.

André Green (1999), The Work of the Negative, London: Free Association Books.

Jacques Lacan ([1961] 1975), „Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“, in: Ders. Schriften 1, Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Jonathan Lear (2006), Radical Hope: Ethics in the Face of Cultural Devastation, Cambridge MA: Harvard University Press.

Friedrich Nietzsche ([1878] 2000), Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Frankfurt/Main: Insel.

Friedrich Nietzsche ([1888] 2000), Die Geburt der Tragödie aus der Musik, Frankfurt/Main. Insel.

Susan Sontag ([2007] 2008), Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, München: Hanser.

Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).