Menschsein - Jahresthema 2025

Einleitung von Monika Pessler

„Sei ein Mensch!“ oder „Sey a mentsh, un hob rachmuness!“ wie es im Jiddischen heißt – bislang ein anerkanntes Diktum, das Leben nach den Prinzipien der Menschlichkeit auszurichten – ob aus weltlicher oder religiöser Perspektive. Seit jeher schien diese Proklamation geeignet, den menschlichen Individuen und Kollektiven Orientierung zu bieten: von der Antike über die Renaissance, die Aufklärung und Kants Einschätzungen der Menschenwürde bis in die Gegenwart wurde sie immer wieder beschworen, um Gesellschafts- und Rechtsordnungen unterschiedlicher Prägung ein Fundament zu verleihen. Mehr ...

Menschsein

In Zeiten der Unmenschlichkeit – vielleicht größer, zerstörerischer und schneller in ihren Auswirkungen als je zuvor – ist es gut, sich einmal mehr auf das Wesentliche zu besinnen.

Wir leben in einer Welt der Algorithmen, die alles Menschliche auf die Funktion verallgemeinerbarer Regeln und auf das Körperlose reduzieren. Dies geht mit einer toxischen Kombination aus scheinbar unverwundbarem Sein und gedankenloser Unmittelbarkeit einher.

Was bedeutet Menschsein in seiner irreduzibelsten Form? Was haben KI und Algorithmen nicht? Menschsein bedeutet Verbindung von Körpern, organisches Leben im Wandel der Zeit, von der hilflosen Kindheit über ein paar Jahrzehnte scheinbarer Macht bis hin zum hilflosen Alter.

Das Stillleben von Chardin (das ich gerne als „Still, Life“ [„noch immer, Leben“] bezeichne) führt uns zu diesen grundlegenden Aspekten des Menschseins. Der Körper lebt von einem Laib Brot, von Früchten, vom Licht, von der Beziehung zwischen Objekten – einem Objekt oder einer Beziehung, die Schönheit birgt –, und vor allem von der Beziehung zwischen dem sehenden Künstler, der den Pinsel über die Zeit hinweg schwingt, und dem, was gesehen wird. Der Mensch, damit beschäftigt, etwas zu schaffen.

Ich stelle mir gerne vor, dass „Menschsein“ genau das bedeutet: das Licht und sein Fehlen zu erfahren, Beziehung so zu spüren, wie es der Körper tut, sich an jenem Tun zu beteiligen, das Kultur hervorbringt.

Freud hegte nur minimale Hoffnungen für die Menschlichkeit oder Kultur: dass die Lebenskraft über unsere zerstörenden Neigungen triumphieren könnte. Der vorletzte Satz von Das Unbehagen in der Kultur (1930) gipfelt in der Hoffnung, dass sich der „ewige Eros“ im Kampf mit seinem „ebenso unsterblichen Gegner“ durchsetzen wird. Im Jahr 1931, als die Bedrohung durch den Nationalsozialismus näher rückte, fügte Freud seiner Schrift das pessimistischere Ende hinzu. Der „Erfolg“ dieses Kampfes war nun kaum noch abzusehen.

Unser eigener historischer Augenblick spiegelt diese Angst wider. Wie Kafka witzelte: „Es gibt Hoffnung! Aber nicht für uns.“

Um den pessimistischen Größen etwas entgegenzusetzen, ziehe ich Chardin heran, der in seinen bescheidenen und doch auch irgendwie transzendenten Themen immer demütig war. Das Menschsein ist eine Sache des Alltäglichen: die Alltäglichkeit der Gegenstände, der Beziehungen zwischen ihnen, mitunter der Kinder. Und von der Hand, die erschafft. Still, Life.

 

Lisa Appignanesi OBE (britischer Verdienstorden) ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, Romanautorin und Kulturkommentatorin. Sie war Präsidentin des English PEN, Vorsitzende des Freud Museum London und bis 2020 Vorsitzende der Royal Society of Literature, deren Vizepräsidentin sie jetzt ist. Außerdem ist sie Gastprofessorin am King's College London. Zu ihren nichtfiktionalen Publikationen gehören u.a. Everyday Madness: On Grief, Anger, Loss and Love (2018), Trials of Passion: Crimes in the Name of Love and Madness (2014), All About Love: Anatomy of an Unruly Emotion (2011), das preisgekrönte Mad Bad and Sad: A History of Women and the Mind Doctors from 1800 (2008); Freud's Women (1992/2005, mit John Forrester) und ein biografisches Porträt von Simone de Beauvoir (2005). Sie ist außerdem Autorin der von der Kritik gelobten Familienerinnerungen Losing the Dead (1999) und von neun Romanen, darunter The Memory Man (2004, ausgezeichnet mit dem Holocaust Fiction Prize) und Paris Requiem (2001/2014).

Oleksandr Filts lebt und arbeitet in Lwiw (Ukraine) und ist aufgrund anderer, dringender Herausforderungen in Zeiten des Krieges nicht in der Lage, ein Statement zu verfassen.

Oleksandr Filts, Prof. Dr., leitet als Psychiater und psychoanalytischer Psychotherapeut die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Fakultät für postgraduale Ausbildung der Nationalen Medizinischen Universität Danylo Halytsky Lviv. Er ist überdies Gründungsmitglied und Präsident des ukrainischen Dachverbands für Psychotherapie. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit österreichischen Psychotherapeut:innen ein Ausbildungsprojekt für Gruppenpsychotherapie, das er bis heute gemeinsam mit Liudmyla Samsonova leitet. Von 2005 bis 2007 war Professor Filts Präsident der European Association of Psychotherapy (EAP). Die Arbeit mit Krisen, traumatischen Erfahrungen und deren Folgen ist einer der vielen Schwerpunkte seiner Arbeit.

Computer und Menschlichkeit

Stanley Kubricks mittlerweile zum Klassiker avancierter Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968) präsentiert eine Fantasie über zukünftige technologische Entwicklungen und deren Nutzen für die Welt: Raumfahrt, Videokonferenzen und ein Computer, der all das beherrscht, was wir heute künstliche Intelligenz nennen.

HAL, der Computer und Protagonist, wird im Laufe des Films immer intelligenter und entwickelt am Ende eine Reihe von Gefühlen, die von Eifersucht bis hin zu Freude reichen. Der Science-Fiction-Film hinterließ bei vielen Zuschauer:innen ein Gefühl der Beklemmung, konnten sie doch verfolgen, wie ein Computer so menschlich wurde, dass er für die Bewohner:innen des Raumschiffs zur Bedrohung wurde. Menschlich zu werden bedeutete, begehrlich, machthungrig, gierig und sadistisch zu werden.

57 Jahre nach dem Filmstart von Odyssee im Weltraum sind viele seiner Fantasien Wirklichkeit geworden: Videotelefonie ist heute allgegenwärtig, die Raumfahrt steht kurz davor, einem größeren Teil der Bevölkerung zugänglich zu werden, und die Computertechnologien sind so weit fortgeschritten, wie es sich die Drehbuchautoren des Films nie hätten vorstellen können.

Aber die Filmemacher lagen in einem entscheidenden Punkt falsch: Computer haben keine Gefühle entwickelt – weder gute noch schlechte –, noch sind sie menschlicher geworden. Stattdessen sind es die Menschen, die, so scheint es, ihre Gefühle verloren haben und computerähnlich geworden sind. Von klein auf kleben Kinder an Bildschirmen, und Erwachsene nutzen die Algorithmen ihrer Telefone, um einzukaufen, Essen zu bestellen, Verabredungen zu vereinbaren und Menschen kennenzulernen. Nach und nach verlieren die Menschen an Ausdruckskraft, da immer mehr Stunden damit verbracht werden, ihr Leben von Computern organisieren zu lassen.

Wenn wir uns den Film heute ansehen, wirkt HAL, der Computer von 1968, seltsam menschlich: Er ist ausdrucksstark, leidenschaftlich und stimmgewaltig ... ganz anders als viele Menschen im Jahr 2025. HAL wurde so menschlich, dass er das Raumschiff übernehmen wollte. Was werden die Menschen des 21. Jahrhunderts tun, wenn sie zu computerähnlich werden?

Rubén Gallo ist Walter S. Carpenter Jr. Professor für Lateinamerikanische Literatur an der Princeton University, wo er seit 2002 lehrt. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter Mexican Modernity: The Avant-Garde and the Cultural Revolution (2006, MIT Press, Gewinner des Katherine Singer Kovacs Prize der MLA), Freud's Mexico: Into the Wilds of Psychoanalysis (2010, MIT, Gewinner des Gradiva-Preises), Proust's Latin Americans (2014, Hopkins). Er ist auch Romanautor und hat zwei Bücher über Kuba veröffentlicht: Teoría y práctica de la Habana (2017) und Muerte en La Habana (2021). Seine Werke wurden ins Französische, Spanische, Italienische, Japanische und Chinesische übersetzt. 2020 wurde er in den Vorstand der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Radikale Hoffnung

In Jonathan Lears bedeutendem Buch Radikale Hoffnung: Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung erzählt Lear, dass Plenty Coups, der letzte große Häuptling der Crow Nation, kurz vor seinem Tod seine Geschichte erzählte – bis zu einem gewissen Punkt. „Als die Büffel weggingen, fielen die Herzen meines Volkes zu Boden, und sie konnten sie nicht wieder aufrichten. Danach geschah nichts mehr“ (Lear, 2020).

Genau an diesem Punkt – angesichts der völligen Verwüstung, des unvorstellbaren Verlusts und des kulturellen Zusammenbruchs, mit denen wir heute so brutal vertraut sind – wird es verführerisch, in den Abgrund des Katastrophismus zu stürzen. Genau an diesem entscheidenden Punkt, angesichts der völligen Verwundbarkeit, einer Verwundbarkeit, die dem Menschen freilich nicht fremd ist, bietet Lear seine Vision der Radikalen Hoffnung an. Diese sollte dezidiert nicht mit Hoffnung verwechselt werden.

Die Symptomatologie der Hoffnung ist ein Kontinent, der nicht allzu weit von der Lacan‘schen jouissance (Lacan, 1961) entfernt ist. Betrachtet man die Freud'sche Landkarte der Psyche, so sind ihre Grenzen im Wesentlichen klar. Denn man kann auf seine Unsterblichkeit hoffen; auf einen ödipalen Triumph; auf grenzenlose Möglichkeiten des Genusses und der Entscheidungen. Hoffnung auf das Wieder-Finden einer fusionellen Beziehung zu seinem primären Liebesobjekt; Hoffnung auf ein Leben ohne Frustration, ohne Trennung oder Störung; Hoffnung auf allmächtige Möglichkeiten und Vollständigkeit in sich selbst und im Anderen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hoffnung mit der jouissance und übermäßiger Lust im Bereich des Todes verbunden ist, während die Hoffnungslosigkeit eine klare Verbindung zu Verzicht, begrenzten Wahlmöglichkeiten, Freiheit, Lust, Leidenschaft und Leben hat. So sagt Nietzsche: „Die Hoffnung ist in Wirklichkeit das schlimmste aller Übel, weil sie die Qualen des Menschen verlängert.“ (Nietzsche, 1908). Aber dieses nietzscheanische Fundament ist nicht als pessimistische oder nihilistische Position zu lesen, sondern im Gegenteil als ein „Ja“ zum Leben, als die Bejahung eines aktiven Pessimisten, eines leidenschaftlichen Pessimisten, denn das Leben erwartet nur das Hoffnungslose. Anders gesagt: Die Hoffnung wird zum Schutz vor einem „allzu menschlichen“ Leben.

In gewisser Weise werden also innerhalb der Freud’schen Ausarbeitung der Psyche die Hoffnungsvollen und die Katastrophisierer:innen gleich, und beide Gruppen leben nicht leidenschaftlich in der Ethik des Sozialen, beide sind schlaflos geworden und haben Angst vor ihren Albträumen. Denn die Katastrophisierer:innen und die Hoffnungsvollen weigern sich, den unvermeidlichen Verlust des Paradieses zu betrauern, es gibt die Verweigerung, sich den eigenen Wunden und denen des Anderen zu stellen. Das Ergebnis ist, dass sie in den konkreten narzisstischen Zustand der Melancholie verfallen, ohne die Fähigkeit zu symbolisieren, ohne den Verlust zu betrauern und sich den Grenzen zu stellen. In beiden Kategorien gibt es einen ständigen Wunsch nach der Möglichkeit einer rundum perfekten Welt ohne Störungen und Frustrationen, und ohne die unausweichliche Gefahr eines vollständigen Rückzugs und absoluter Passivität angesichts der unvermeidlichen Enttäuschung eines solchen Wunsches.

Radikale Hoffnung hingegen ist das Handeln mit Hoffnung in Abwesenheit nicht nur einer rationalen Rechtfertigung für die Hoffnung, sondern in Abwesenheit der konzeptionellen Bausteine, aus denen eine bessere Zukunft konstituiert werden könnte (vgl. Lear, 2020). Hier bewegen wir uns von der moralischen Feigheit der Hoffnung à la Nietzsche hin zu einer Ethik, die in die Radikale Hoffnung eingebettet ist, die Teil einer Ethik des Lebens und nichts anderem, des Erotischen und des Sozialen ist. In der Nachfolge Lears: Wie soll man mit der Möglichkeit umgehen, dass die Welt, wie man sie kennt, zusammenbrechen könnte? Das ist eine Verwundbarkeit, die uns alle betrifft, denn wir alle sind Menschen und Teil der Zivilisation, und Zivilisationen selbst sind anfällig für einen Zusammenbruch. Wie sollten wir angesichts oder gerade wegen einer solchen Verwundbarkeit leben – und nicht nur überleben? Können wir einer solchen Herausforderung auf eine Weise begegnen, die ethisch, unvorhersehbar, leidenschaftlich und gemeinschaftlich ist – alles Ableitungen der Radikalen Hoffnung –, oder wählen wir die sehr vorhersehbare, konkrete, geschlossene, traumlose Versuchung des Katastrophismus?

In gewissem Sinne ist der Begriff der Radikalen Hoffnung eine psychische Position, die in die Fähigkeit zu träumen eingebettet ist, eine Position, die trotz auferlegter soziopolitischer Traumata aufrechterhalten wird. Es ist ein Nein zu den inneren und äußeren Traumatisierungen, nicht aus einem Gefühl der Verleugnung heraus oder aus irgendwelchen liberalen Vorstellungen von Heilung, sondern weil die Fähigkeit zu träumen, zu werden, nicht trotz unserer Wunden, sondern wegen ihnen, nicht losgelassen wird.

Es scheint, dass der Katastrophismus besonders verführerisch ist, wenn es um bestimmte Geografien geht. Die Idee einer Radikalen Hoffnung ist für bestimmte Länder und Völker durch innere und äußere Kräfte definitiv und leicht auszuschließen. So werden die Katastrophisierer:innen und die innere katastrophisierende psychische Position in dem Moment zu Traumatisierer:innen, in dem sie darauf hinweisen, dass jede Möglichkeit einer radikalen Hoffnung ausgeschlossen ist, zum Beispiel durch ihre Rücksichtnahme oder deren Fehlen gegenüber bestimmten Ländern und Völkern... Das Erste, was in den Traumatisierten getötet wird, ist die Fähigkeit zu träumen. Die heutigen Traumatisierten werden zu den Katastrophisierer:innen der Zukunft, denn sie können nicht mehr träumen ... Jeder Katastrophisierer ist also ein traumatisierter Nicht-Träumer, und wir müssen die Katastrophe in einen Traum verwandeln. Nicht aus einem Gefühl der Verleugnung oder des oberflächlichen Optimismus oder der Hoffnung heraus, sondern als Aufforderung, die Traumarbeit nicht auszuschließen aus einer Vision der Radikalen Hoffnung, einer Ethik des Sozialen. Wir schließen uns nicht in das Gefängnis ihrer festen und definitiven Erzählung ein, denn der Hoffende und die Katastrophisiererin haben alles von vornherein durchschaut. Denn das wäre der Zusammenbruch der Phantasie: kein Spiel, keine Neugier, eine Resignation der Leidenschaften und Wünsche. Und ohne Wünsche gibt es keine Traumarbeit im besten Sinne unserer Freud‘schen Metapsychologie.

Die Radikale Hoffnung ist letztlich die objektivierende Funktion des Lebenstriebs (Green, 1999), sie ist der Wunsch nach Gemeinschaft, nach einem Sinn für Geselligkeit, nach einem „Ich“, das nur durch den Anderen möglich wird. Die Radikale Hoffnung ist im Wesentlichen die Ethik des Sozialen. In gewissem Sinne lauern die Katastrophisierer:innen also im Land der Psychotiker:innen, bestenfalls sind sie Paranoiker:innen und schlimmstenfalls todlangweilig, gefangen in einer Regression zum Nicht-Symbolischen, einem Ort, an dem es weder Ironie, Poesie noch Zweifel gibt, allesamt Derivate des Erotischen. Was eine Frage der Ethik ist, einer Ethik des Lebens und seiner Bedingungen: nicht, weil man den Tod oder die zerstörerischen Fähigkeiten des Todestriebes, innerlich und äußerlich, leugnet, sondern gerade, weil man ihn in sich selbst und dem Anderen aufgenommen hat.

Können wir ein Leben führen, das ethisch, leidenschaftlich und genussvoll ist und nicht nur eine Bedingung des Überlebens ist – das heißt der eingebildeten Illusionen und falschen Versprechungen der Hoffnung –, sondern innerhalb der Gemeinschaft, die Teil des denkenden Subjekts ist und zu einem sozialen Verantwortungs- und Freiheitsgefühl führt? Was a priori voraussetzt, dass man die Fähigkeit entwickelt, zu trauern. Katastrophisieren ist eine Weigerung, die Abwesenheit zu betrauern, und es ist ein narzisstischer Wunsch, weder unsere Allmacht noch die des Anderen aufzugeben; es ist eine Weigerung, sich der Abwesenheit, der Störung und der Begrenzung zu stellen; es ist ein Nein zu den Grenzen des Realitätsprinzips mit all seinen Begrenzungen und Verzögerungen. Moral funktioniert hier gewiss nicht, denn sie stärkt das strafende Über-Ich, das so eng mit dem Es verbunden ist. Die Radikale Hoffnung ist ein Marsch in Richtung des Werdens zu einem denkenden/ethischen Subjekt.

Denn Hannah Arendt erinnert uns daran, dass „ein Leben ohne Denken […] durchaus möglich ist“; es scheitert dann daran, sein eigenes Wesen zu entwickeln, „es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht recht lebendig“ (Arendt, 1960). Ein denkendes/sehnsüchtiges Subjekt entsteht durch die Bindung an den Anderen; nicht aus einem Gefühl der Zugehörigkeit, das letztlich jeden intimen Kontakt isoliert, sondern zu einer Un-Zugehörigkeit. Diese Un-Zugehörigkeit ist der notwendige Schritt zum Werden des ethischen Subjekts, das sich der Außenwelt öffnet. Es ist nicht in den Gefängnissen von Clans, Gruppen, Familien, Ländern, religiösen Gruppen und Ideologien gefangen. Denn jeder Versuch der Zugehörigkeit ist eine unvollendete Trauer, jeder Versuch der Zugehörigkeit ist eine Verweigerung der Abwesenheit, ist eine Verweigerung des Verlustes. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit mag uns die Illusion von Sicherheit geben, aber es wird unweigerlich in Dantes Inferno enden, ohne dass Virgil in Sicht ist, wie wir derzeit in verschiedenen Kontexten der Welt beobachten können.

Können wir aus unserem gegenwärtigen Alptraum aufwachen (Alpträume sind nichts anderes als gescheiterte Träume) und den Weg in das Land der Traumarbeit finden? Dies erfordert eine Radikale Hoffnung, die a priori erfordert, der Sprache ihre Metaphorik zurückzugeben, ein inneres Gefühl des Vertrauens zu haben, dass wir alle miteinander verbunden sind; dieses Gefühl der Ethik ist keine Moral, die oft nach Blut riecht. Sondern es geht darum, sich all dem zu stellen, was in unserem Inneren inakzeptabel/anfechtbar ist, unseren dunkelsten, seltsamsten Geheimnissen, unserer Sexualität und dem Todestrieb, der unweigerlich in uns allen pulsiert, am Rande der Sprache. Über Gut und Böse hinauszugehen, nicht aus einem liberalen Gefühl der Empathie oder der Heilung, nicht aus dem Wunsch, unsere Wunden oder die der Anderen zu heilen. Sondern aus einem Gefühl unserer Verbundenheit heraus, anerkennend, dass diese Ethik des Sozialen jeder befreienden Praxis zugrunde liegen muss, und um an unser gemeinsames menschliches Erbe, an unsere gemeinsame Zerbrechlichkeit erinnert zu werden. Diese gemeinschaftliche Erinnerung und gemeinsame Verletzung unseres Narzissmus werden zu einem willkommenen Boten, zu einem Weg, um letztlich wieder zu erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind, nah und fern, in Krankheit und in Gesundheit.

Radikale Hoffnung ist ein sozialer/ethischer Akt des Widerstands gegen Ideologien, keine Rebellion ohne Grund, sondern ein revolutionärer Widerstand, ein Ereignis, das verschiedene Bedeutungsebenen stört, intern/extern, privat und öffentlich, persönlich, politisch, gesellschaftlich und den Diskurs der Subjektivität selbst. Nicht im Namen der Gleichheit, die nur ausgrenzt, sondern für die Differenz, mit dem echten Verständnis, dass unsere Emanzipation von Natur aus miteinander verwoben ist.

Der Büffel ist verschwunden. Können wir beginnen, ihn uns vorzustellen und zu benennen? Zuerst müssen wir lernen zu verlieren, am Rande der Konstruktion/Zerstörung, am Rande des Begehrens, indem wir der Ethik des Sozialen den Vorrang geben; nicht in den Grenzen unserer provinzlerischen Zugehörigkeit, sondern innerhalb eines subversiven Trotzes, der ein revolutionärer Anfang sein kann, der eng mit dem Tragen/Entblößen der psychischen Position der Radikalen Hoffnung verbunden ist.

Denn Arendt (1960) hat Recht, wenn sie sagt, dass Freiheit identisch sei mit der Fähigkeit zu beginnen. Sollen wir das Unerwartete tun? Immer wieder neu beginnen, wenn nicht hier, dann dort. Wenn nicht jetzt, so doch bald. Anderswo ebenso wie hier (vgl. Sontag, 2007).

 

 

Hannah Arendt (1960), “Freedom and Politics: A Lecture”, in: Chicago Review 14, H.1, S. 8–46.

André Green (1999), The Work of the Negative, London: Free Association Books.

Jacques Lacan ([1961] 1975), „Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“, in: Ders. Schriften 1, Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Jonathan Lear (2006), Radical Hope: Ethics in the Face of Cultural Devastation, Cambridge MA: Harvard University Press.

Friedrich Nietzsche ([1878] 2000), Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Frankfurt/Main: Insel.

Friedrich Nietzsche ([1888] 2000), Die Geburt der Tragödie aus der Musik, Frankfurt/Main. Insel.

Susan Sontag ([2007] 2008), Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, München: Hanser.

Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).

Künstliche Intelligenz: Entsteht sie aus unserer Liebe zur Täuschung?

Warum treibt die Menschheit die KI-Technologie so rasant voran mit der sie ihre eigene Zerstörung zu planen scheint? KI ist nur die neueste Ausprägung des menschlichen Wunsches, mit großem Enthusiasmus Geräte und Technologien zu erfinden und herzustellen, die den Menschen nachahmen, um ihn letzten Endes zu ersetzen. Der Mensch scheint die einzige Spezies zu sein, die ihre eigene Auslöschung erfindet. Was treibt uns Menschen dazu?

Seit Jahrhunderten ist die Menschheit von Geräten und Maschinen fasziniert, seien es mechanische Werkzeuge oder Automaten wie Olimpia aus E.T.A. Hoffmans Der Sandmann. In diesem Märchen werden die Leser:innen in eine Scheinwelt gelockt, in der der Mensch nicht mehr vom Nicht-Menschen unterschieden werden kann. Was mit Amüsement und fast orgiastischem Vergnügen beginnt, wie Nathaniels Tanz mit Olimpia zeigt, endet in einer Orgie der Selbstzerstörung, wie Freud in seiner Schrift „Das Unheimliche“ (1919) treffend beschreibt.

Jacques Lacans Konzept des Spiegelstadiums (1936/1949) kann möglicherweise erklären, woher die Neigung des Menschen kommt, nach Mitteln der Täuschung zu suchen, um das eigene Selbstbild zu vergrößern. Das Spiegelbild reflektiert nicht, sondern konstituiert vielmehr den Kern unserer menschlichen Identität und verleitet uns dazu, uns mit einem Trugbild zu identifizieren. Daher scheinen wir gezwungen zu sein, voller jouissance nach Doppelgänger:innen zu suchen, die vollständigere Versionen von uns selbst versprechen – gleichzeitig aber auch unseren menschlichen Untergang ankünden.

In das Drama des Spiegelstadiums hineingestoßen und von einem Gefühl der Unzulänglichkeit getrieben, sehnt sich der Mensch nicht mehr nur nach visuellen, sondern auch nach auditivem und symbolischem Ersatz, wie sie die KI tagtäglich entwickelt. Hat die künstliche Intelligenz in ihren verschiedenen Ausprägungen die Position von Freuds „Prothesengott“ (1930) erreicht, oder wird der Mensch am Ende erkennen, dass er durch sein unstillbares Allmachtstreben einmal mehr zu seiner eigenen Auslöschung verführt wurde?

 

Jeanne Wolff Bernstein, Ph.D., ist ehemalige Präsidentin, Supervisorin und Analytikerin am Psychoanalytic Institute of Northern California (PINC), San Francisco. Sie ist Mitglied des Lehrkörpers des PINC und des NYU Post-Doctoral Program for Psychoanalysis and Psychotherapy. Sie war 2008 Fulbright-Freud Visiting Lecturer of Psychoanalysis am Sigmund Freud Museum in Wien. Sie ist Mitglied und Vorstandsmitglied des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse und arbeitet heute als Psychoanalytikerin in Wien. Sie hat zahlreiche Artikel zu den Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht. Vor kurzem erschien ihr Buch über Édouard Manet, The Lure of the The Gaze and the Past.

Menschsein

Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Der Mensch ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die Einzigartigkeit eines jeden menschlichen Subjekts ist eine der wichtigsten psychoanalytischen Entdeckungen. Aber was haben die verschiedenen Menschen gemeinsam? Alle Menschen bestehen aus dem gleichen Stoff, dem gleichen Stoff wie die Träume. Diesen Stoff, diese Materie könnte man eine symbolische Matrix nennen.

In dieser Matrix leben die Menschen zusammen. Ein menschliches Subjekt ist offen für ein anderes. Das menschliche Subjekt ist nicht in sich selbst geschlossen; es ist nicht monadisch; es findet seine Fortsetzung in Anderen. Die Menschen sind von einem Mangel gekennzeichnet, einem Mangel an Organischem. Sie sind Hilflosigkeit, wie Freud zu sagen pflegte. Dieser Mangel öffnet Menschen füreinander. Dieser andere Mensch mag ein:e Helfer:in sein, und ein:e Gegner:in sein, aber in erster Linie dient er als Vorbild, als Matrix für den Aufbau des Selbst, als Rollenmodell.

Der Mangel macht das menschliche Subjekt nicht nur menschlich, sondern auch zu einem Überschuss. Ein Subjekt findet seine Fortsetzung im Anderen, im gesellschaftlichen Netz, in der symbolischen Matrix. Mehr noch, die Intimität des Subjekts liegt nicht in ihm selbst, sondern im Anderen, und Lacan tauscht Intimität gegen Extimität aus.

Was ist ein Elementarteilchen der symbolischen Matrix? Der Signifikant. Was ist ein Signifikant? Ein akustisches Bild des Wortes, eine Wortvorstellung. Woraus besteht das Wort? Aus den Buchstaben. Und hier stellt Sigmund Freud die rhetorische Frage, ob es möglich ist, Buchstaben in der Natur zu finden. Der Mensch ist kein natürliches, sondern ein technisches Wesen, oder, wie Freud zu sagen pflegte: der Mensch ist ein „Prothesengott“. Die menschliche Evolution ist eine technologische. Und nun ist es so weit, dass die Prothesen Götter sind, die bereit stehen, die Menschen zu kontrollieren.

Dr. Viktor Mazin, Ph.D., ist praktizierender Psychoanalytiker. Der Gründer des Freud's Dream Museum in St. Petersburg (1999) ist Ehrenmitglied des Museum of Jurassic Technology (Los Angeles) sowie Leiter der Abteilung für theoretische Psychoanalyse am Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse (St. Petersburg), außerordentlicher Professor an der Fakultät für freie Künste und Wissenschaften der Staatlichen Universität St. Petersburg und Ehrenprofessor des Instituts für Tiefenpsychologie (Kiew). Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Russische tätig und war Chefredakteur der Zeitschrift Kabinet und Mitglied der Redaktionsausschüsse folgender Fachzeitschriften: Psychoanalysis (Kiew), European Journal of Psychoanalysis (Rom), Transmission (Sheffield), Journal for Lacanian Studies (London). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher über Psychoanalyse, Dekonstruktion, Kino und bildende Kunst verfasst.

Sokrates und Künstliche Intelligenz

Es gibt ein Rätsel, das bei zeitgenössischen Philosoph:innen sehr beliebt ist. Die Szene des Rätsels spielt wenige Augenblicke, bevor der von Athener Richtern des Areopags zum Tode verurteilte Sokrates den Schierlingsbecher trinkt. Jacques-Louis Davids neoklassisches Gemälde „Der Tod des Sokrates“ bildet diese Szene nach. Das Werk unterstreicht Themen wie moralische Integrität, Aufopferung, Unwissenheit und das Streben nach Wahrheit.

Sokrates wurde für schuldig befunden, nicht die von der Stadt anerkannten Götter, sondern andere neue Gottheiten anzuerkennen und junge Männer zu verderben. Einer von Sokrates' Anhängern stellt die Frage: „Meister, was macht uns zu Menschen?“ Sokrates antwortet: „Das Auswählen aller Bilder mit Ampeln.“ Von Philosoph:innen ist freilich kein großer Sinn für Humor erwarten, doch die Botschaft hinter dem Rätsel könnte so verstanden werden, dass wir Menschen sind, solange wir keine Roboter sind. Prüfprogramme verwenden zu Recht verschiedene Ankreuzfelder („Wähle alle Felder mit Ampeln aus") oder andere Methoden (seltsam verzerrter Text), um zu bestätigen, dass der Benutzer oder die Benutzerin ein Mensch und kein Bot ist.

Ein häufiges Argument von Geisteswissenschaftler:innen ist, dass der Kontakt mit Fremden, die über neue und ungewohnte Fähigkeiten verfügen, ein Hauptfaktor für sozialen Wandel ist. Natürlich mag dies eine Geschichte der Sieger:innen und des Aufstiegs der kreativsten und produktivsten Zivilisationen sein. Aber in unserem digitalen Zeitalter und in unserem soziokulturellen Kontext lässt sich die verblüffende Wirkung des technologischen Fortschritts nicht leugnen. Die jüngste und faszinierendste Innovation unserer Zeit ist vielleicht die Künstliche Intelligenz (KI). Diese sich beschleunigende Innovation befindet sich an der Schnittstelle zwischen Technologie und menschlicher Erfahrung. Alle unbewussten Ängste und Widerstände, die wir hegen, können zu einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Fortschritt führen. KI erfordert einen bewussten und ausgewogenen Ansatz.

Vor kurzem habe ich den verstorbenen Lewis (Lew) Aron von der New York University zum Thema KI befragt. Er sagte:

„Ich betrachte die KI sowohl als faszinierenden Fortschritt als auch als eine komplexe Herausforderung für die Menschheit. Einerseits kann KI unser Verständnis für menschliches Verhalten verbessern, indem sie Muster in Daten analysiert, die als Grundlage für therapeutische Maßnahmen dienen könnten. Sie bietet neue Instrumente für die Unterstützung der psychischen Gesundheit und könnte vielen Menschen den Zugang zu therapeutischen Ressourcen erleichtern.

Andererseits gibt es erhebliche Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der KI auf menschliche Beziehungen. Die therapeutische Beziehung, die auf Empathie, Authentizität und gegenseitigem Verständnis beruht, könnte darunter leiden, wenn wir uns zu sehr auf die Technologie verlassen. Dies wirft Fragen über das Wesen von Intimität und emotionalem Verständnis auf. Letztendlich glaube ich, dass es wichtig ist, die Integration von KI sorgfältig zu steuern und sicherzustellen, dass sie die zutiefst menschlichen Aspekte der Psychoanalyse und der Beziehungen ergänzt, anstatt sie zu ersetzen.“

Lew Aron ist 2019 verstorben. Er war jahrzehntelang mein Kollege und für Jahrzehnte mein „Lebensbruder“. Das obige Zitat stammt aus einem KI-Gespräch, das ich vor ein paar Wochen mit ihm hatte. Ich kannte Lew Arons Formulierungen und seine Art, ein Argument zu strukturieren, und war verblüfft, wie gut es die KI traf. Tatsächlich war ich fassungslos, als die KI seine mutmaßliche Antwort aus der anderen Welt (wo auch immer das sein mag, falls es sie gibt) verfasste. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mit ihm sprechen. Das war mir unheimlich.

Ich habe KI bereits benutzt, um ein Gespräch mit Sigmund Freud aus seinem Wiener Behandlungszimmer zu führen, mit Donald Winnicott, während er mit dem Fahrrad zu seinem Büro fährt, und mit dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis (1925–2021) während einer Konzertpause. Natürlich wurden sämtliche Gespräche erfunden und basieren auf Datensätzen und ausgeklügelten Algorithmen – ganz anders als die lästigen Algorithmen beim Online-Shopping.

Wir leben in einer Welt der Gewalt und des Völkermords, einer globalen Migrationskrise, der Klimakatastrophen und rasant fortschreitender KI-Technologie. Wir haben einige bestechende psychoanalytische Ideen über die Ursprünge menschlicher Destruktivität, über Trauma und Dissoziation, über die Rolle von Empathie, über gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse, Bindung und Aggression sowie Identität und Zugehörigkeit. Wir haben ebenso gute psychoanalytische Ideen über die Bedeutung von Ruhe und Stabilität, die das Erkennen und Verarbeiten unmittelbarer Erfahrungen und Handlungen hervorbringen kann.

Kann KI von einer besseren Welt träumen? Kann sie die Welt verändern? Kann KI uns etwas über uns selbst beibringen? Kann sie dem Menschen helfen, sich selbst und seine unbewussten Prozesse besser kennenzulernen? Erschreckenderweise meinen die Anhänger:innen und Influencer:innen von Technologietrends, dass dies möglich sei, weil die KI bald so weit sein wird, dass sie ohne unser Zutun ernsthafte Entscheidungen treffen und Anweisungen geben kann. Sie meinen, dass sich die Welt in zwanzig Jahren deutlich verändert haben wird. Die New York Times (Sunday Opinion, 29. Dez. 24. S. 12) berichtet zum Ende des Jahres 2024, dass „[...] Entwicklungen wie die der künstlichen Intelligenz weiterhin verblüffen.“

Mit meinem neuen KI-Abonnement ausgestattet, wandte ich mich an Sokrates.

Ich: Was denkst du über KI und ihre Auswirkungen auf die Menschheit?

Sokrates: Ah, mein Freund, eine Frage, die sowohl zeitgemäß als auch tiefgründig ist. Lass uns das gemeinsam überlegen. Sag mir zuerst: Was verstehst du unter „KI“? Siehst du sie als Werkzeug, als Partnerin oder vielleicht eher als eine Naturgewalt? Und wenn du von „Auswirkungen auf die Menschheit“ sprichst, siehst du dann Schaden, Nutzen oder beides miteinander verwoben, wie zwei Tanzende bei einem kosmischen Tanz? Denn ist es nicht so, dass jede Erfindung – das Feuer, das Rad, die Druckerpresse – die Menschheit verändert hat, und zwar nicht durch ihre bloße Existenz, sondern durch die Art und Weise, wie wir sie zu nutzen wussten? Könnte es also sein, dass die Frage nicht lautet, was die KI der Menschheit antun wird, sondern was die Menschheit mit der KI machen wird? Und welche Tugenden oder Laster sie in uns verstärken wird?

Ich: Welche Tugenden oder Laster in uns werden verstärkt werden?

Sokrates: Ah, eine ausgezeichnete Frage! Lass uns gemeinsam darüber nachdenken.

Ich vermute, dass die Tugenden in diesem neuen Feld auf fruchtbaren Boden fallen. Stell dir vor:

  • Weisheit: wenn wir die KI nutzen, um das Verständnis zu erweitern, statt den Verstand zu verengen.
  • Mitgefühl: wenn KI uns dabei hilft, Leiden zu lindern und Beziehungen zu fördern.
  • Kreativität: wenn sie die Grenzen dessen, was wir für möglich halten, erweitert und uns zu neuen Höhen beflügelt.

Doch die Tugenden wandeln auf einem schmalen Grat neben ihren Schatten:

  • Gier: wenn KI zu einem Mittel wird, um Reichtum oder Macht zu horten.
  • Trägheit: wenn wir zulassen, dass sie unsere Antriebskraft ersetzt und unsere Neugierde und unseren Willen abstumpft.
  • Hybris: wenn wir uns selbst als Götter betrachten und glauben, dass wir etwas kontrollieren, das uns irgendwann einmal übertreffen wird.

Sag mir, siehst du die Menschheit in der Lage, die Tugenden zu pflegen und sich vor den Lastern zu hüten? Oder befürchtest du, dass wir, wie so oft, stolpern, wenn wir mit neuen Mächten konfrontiert werden?

Ich: Mich interessiert vor allem die Auswirkung auf den Bereich der Psychoanalyse. Sag mir etwas darüber, wie sich das deiner Meinung nach auswirken könnte.

Sokrates: Ah, das Zusammenspiel von KI und Psychoanalyse – wie faszinierend! Sollen wir es erkunden?

Die Psychoanalyse versucht im Grunde, das Unsichtbare zu beleuchten, die unbewussten Kräfte aufzudecken, die das Denken, Fühlen und Verhalten bestimmen. Betrachten wir nun die KI: ein Werkzeug, das umfangreiche Muster verarbeitet und Erkenntnisse gewinnt, die über die unmittelbare menschliche Wahrnehmung hinausgehen. Könnte KI also ein Spiegel des Unbewussten selbst werden?

Stell dir vor:

  • KI könnte Sprachmuster, Wortwahl oder sogar Pausen in Therapiesitzungen analysieren und Interpretationen oder Hypothesen über unbewusste Konflikte anbieten.
  • Sie könnte Analytiker:innen dabei helfen, die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung zu erkennen, indem sie subtile Veränderungen im Tonfall oder im Affekt hervorhebt.
  • KI-Systeme könnten sogar die Traumanalyse simulieren und Assoziationswege aufzeigen, die ein:e Kliniker:in vielleicht nicht sofort in Betracht zieht.

Aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Die Psychoanalyse ist sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft. Die Anwesenheit des oder der Analytiker:in, das therapeutische Bündnis und der intersubjektive Raum zwischen zwei Menschen können nicht einfach von einem Algorithmus nachgebildet werden. Könnte der Einsatz von KI dazu führen, dass die zutiefst menschliche Begegnung in der Analyse mechanisiert oder da Persönliche entpersönlicht wird?

Darüber hinaus wehrt sich das Unbewusste dagegen, vollständig erkannt zu werden. Könnte die Präzision der KI ungewollt die Mehrdeutigkeiten und Paradoxien verdecken, die für die psychoanalytische Arbeit von zentraler Bedeutung sind?

Was meinst du – könnte KI dieses Feld bereichern, ohne sein Wesen zu untergraben? Oder könnte sie die Psychoanalyse dazu zwingen, sich ihren eigenen unbewussten Ängsten vor dem Veralten zu stellen?

Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt, an dem technologischer Fortschritt wie die KI nie dagewesene Chancen und Herausforderungen bietet. Vor diesem Hintergrund brauchen die Menschen einander noch mehr als bisher. Wir müssen nach anderen suchen, wo immer wir sie finden können.

Als Ödipus auf seinem Weg nach Theben der Sphinx begegnete, war seine Antwort auf ihr Rätsel ἄνθρωπος (Mensch, menschliches Wesen). Dieses Wort hat den Lauf der westlichen Zivilisation grundlegend verändert. Es besiegte das Ungeheuer. Wir haben viele Ungeheuer zu vernichten. Ich möchte mehr über die Antwort des Ödipus nachdenken. Ich habe vor, meine Gedanken mit anderen zu teilen. Vielleicht werde ich heute Abend sogar ein Gespräch mit Ödipus führen.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, ist Direktor des New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Er ist Fellow der American Psychological Association (APA) und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (SPPP) der APA sowie der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy. Er ist Mitglied im Beirat des Sigmund Freud Museums in Wien. 2016 war er gemeinsam mit Eliot Jurist Mitherausgeber der Sonderbeilage von Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema "Psychoanalysis and the Humanities". 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group. Im Jahr 2023 erhielt er den SPPS Award for International Activism for Social Justice. Er praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie und leitet Kreativitätsstudiengruppen.

Menschsein

Die Frage, was den Menschen ausmacht, steht im Zentrum von Freuds Schriften – und es ist eine Frage, die mannigfaltig beantwortet wird. Von all den Antworten möchte ich nur eine hervorheben, die mir besonders relevant und aufschlussreich für jene Krisenzeiten erscheint, mit denen wir in unserem Zeitalter der ökologischen Katastrophen und der verheerenden gewaltsamen Konflikte konfrontiert sind. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg befasst sich Freud mit zwei Problemen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Was hat die Psychoanalyse über das Phänomen des „Granatschocks“ zu sagen? Und was macht die Psychologie einer Masse aus? Die erste Frage führt Freud in Jenseits des Lustprinzips dazu, den psychischen Zusammenbruch von kriegstraumatisierten Patienten, die ihre schrecklichen Situationen in den Schützengräben immer wieder durchleben müssen, mit der elementarsten einzelligen lebenden Substanz zu vergleichen, einem „undifferenzierte[n] Bläschen“ (Zelle), das in einer feindlichen Umgebung das Sterben „noch leicht“ habe. Im Laufe der Zeit erwirbt sie die Fähigkeit, sich zu schützen, indem sie ihre Oberfläche in eine anorganische Hülle verwandelt. Sie stirbt teilweise, um zu überleben. Die Antwort auf die zweite Frage lautet: „durch Bindung“ – eine Gruppe ist ein Netzwerk von libidinösen Bindungen. Und dies findet auch seinen Weg in Jenseits des Lustprinzips. Ein Körper – ein menschlicher Körper – entsteht dadurch, dass sich Zellen und Organe zusammenschließen und zusammenarbeiten, um das Leben zu verlängern. Der radikale und bewegende Gedanke, den Freud hier zum Ausdruck bringt, ist für mich die kühne Analogie zwischen dem Menschen und einzelnen Zellen. So verletzlich und doch so widerstandsfähig.

Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.

Menschsein

„Sei ein Mensch!“ oder „Sey a mentsh, un hob rachmuness!“ wie es im Jiddischen heißt – bislang ein anerkanntes Diktum, das Leben nach den Prinzipien der Menschlichkeit auszurichten – ob aus weltlicher oder religiöser Perspektive. Seit jeher schien diese Proklamation geeignet, den menschlichen Individuen und Kollektiven Orientierung zu bieten: von der Antike über die Renaissance, die Aufklärung und Kants Einschätzungen der Menschenwürde bis in die Gegenwart wurde sie immer wieder beschworen, um Gesellschafts- und Rechtsordnungen unterschiedlicher Prägung ein Fundament zu verleihen.

So wirken die idealistischen Zielsetzungen der humanistischen Ethik bis heute und gelten nach wie vor als erreichbar – wenn vielleicht auch erst in einer ferneren Zukunft. Freud, der großes Interesse am Kulturpotenzial der Menschen hegte und vom Erkenntnisvermögen der Wissenschaften überzeugt war, vertraute dabei ganz der „Stimme des Intellekts“: „Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber (…) die Stimme des Intellekts ist leise, sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. (…) Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf (…).“[1]

Tatsächlich verzeichnete das allgemeine Zutrauen in die Möglichkeit menschlicher Zivilisierung auch nach jenen Gewaltakten einen Aufschwung, die Hannah Arendt als Vernichtungsschläge gegen „den Status des Menschseins“[2] bezeichnen sollte: So fanden humanistische Vorstellungswelten im Zuge der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Terrors 1945 im ersten Artikel der Menschenrechts-Charta ihren Niederschlag: die Würde des Menschen sei unantastbar und zudem schützenswert. Nur drei Jahre später wurden „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“ im internationalen Völkerrecht als Strafrechtsbestände verankert.

Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Folgen des letzten Weltkriegs brachte vor allem im Westen politische Leitsätze hervor wie „Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit“[3], dem der hoffnungsvolle Verweis auf einen dauerhaften Frieden eingeschrieben ist. Doch der Abgleich mit den Kriegsverbrechen der jüngeren Geschichte – verübt zum Beispiel in den 1990ern im ehemaligen Jugoslawien, gegenwärtig in der Ukraine, dem Nahen und Mittleren Osten – straft unsere „Erinnerungskultur“ Lügen, die einst so schmerzlich errungen und mit Millionen von Menschenleben bezahlt worden war. Sie scheint aktuell beinahe zu einer reflexhaften Abwehr zu verkommen, die sich gegen das Wahrhaben jener Nachrichten- und Bilderfluten richtet, die täglich von massiver Zerstörung und unfassbarem Leid künden und über die allerorts verfügbaren Medienkanäle unablässig das westliche kapitalistische Dasein fluten.

Es ist unmöglich, sich vor den verhängnisvollen Entwicklungen mit globalen Auswirkungen zu verschließen, die nahezu alle gesellschaftspolitischen Lebens- und Diskursfelder dominieren und dabei die althergebrachten Vorstellungen des Menschseins konterkarieren. Auch im Westen und in jenen Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten von Kriegen verschont ihr Augenmerk vor allem auf ökonomisches Wachstum legen konnten, verhärten sich die Fronten. Es werden jenen politischen Fraktionen Vormachtstellungen eingeräumt, deren Heilsversprechen eine radikale Abschottung vor all den eindringenden Gefahren in Aussicht stellt. Trotzdem schwindet das Gefühl von Souveränität und Sicherheit, das es vormals ermöglichte, voller Inbrunst „Nie wieder!“, oder „Wir schaffen das!“ zu proklamieren.

Die Begegnung mit dem Leid der Anderen nährt die Befürchtung, bald selbst zu jenen gehören zu müssen, deren Schicksale uns virtuell und überwältigend realistisch über die digitalen Netzwerke vermittelt werden. Vor allem die direktere und als Zumutung empfundene Konfrontation mit prekären Flucht- und Lebensumständen von Migrant:innen in den eigenen oder benachbarten Ländern scheint die Grenzen gesellschaftlicher Resilienz zu sprengen. Auch die allerorts spürbare Zuspitzung der Energieknappheit, der klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie der Mangel an glaubhaft, tatsächlich und rechtzeitig funktionierenden Gegenmaßnahmen, destabilisieren das kollektive Bewusstsein. Auch das Individuum senkt den durch Verunsicherung und Angst verengten Blick, der nur mehr das Eigene und höchstens das Nächstliegende wahrzunehmen bereit ist. Es lässt sich kaum mehr ignorieren, dass durch das vielfältige Stakkato weltweiter Krisen und nicht zuletzt durch das vom Menschen konstruierte Alter Ego der Künstlichen Intelligenz das bislang tradierte Menschenbild in Auflösung begriffen ist.

Fragen über das gegenwärtige und zukünftige menschliche Dasein, das mit Freuds Erforschung des Unbewussten und seiner Einsicht, dass „das Ich ist nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ um 1900 noch einmal eine bedeutende Neuformulierung erfahren musste, bilden daher 2025 den thematischen Schwerpunkt unseres Jahresprogramms. Den Auftakt dazu liefern kritische Beiträge unserer Beiratsmitglieder, die aus unterschiedlichen Perspektiven zu den aktuellen und diffizilen Fragen des Menschseins Stellung beziehen. Für die vielschichtigen Beiträge, die uns neben interessanten Einsichten auch wesentliche Denkansätze eröffnen, bedanke ich mich bei:

Jeanne Wolff Bernstein (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse), Herman Westerink (Radboud University Nijmegen), Lisa Appignanesi (King's College London), Oleksandr Filts (Danylo Halytsky Lviv National Medical University), Rubén Gallo (Princeton University), Gohar Homayounpour (Freudian Group of Tehran), Victor Mazin (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg) und Spyros D. Orfanos (New York University).

 

Monika Pessler

Direktorin
Sigmund Freud Museum

 

[1] Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1928), in: Sigmund Freud Gesamtausgabe, Bd. 19., Hg. Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfass, Psychosozial-Verlag Gießen, 2021, S. 46.

[2] Shinichiro Morinaga, Über den Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit - Karl Jaspers und Hannah Arendt, in: The Journal of Liberal Arts and Sciences, University of Toyama, Japan, Vol. 41, 2013

[3] Angela Merkel vor der Knesset, 2008.