ABSTRACTS UND BIOGRAFIEN

Régine Bonnefoit: Szenen »grausamer Liebe» im Werk von Oskar Kokoschka

(Vortrag auf Deutsch)

Das Thema der (sexuellen) Gewalt gegen Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch das bildnerische und literarische Frühwerk von Oskar Kokoschka (1886–1980). Sein 1908 erschienenes dichterisches Erstlingswerk Die träumenden Knaben beschreibt das Erwachen der Sexualität eines pubertierenden Knaben, dessen Ängste sich in Träumen, Metaphern für die geschlechtliche Vereinigung und sogar in Mordphantasien entladen. Es handelt sich um Themen, die ohne die Kenntnis von Sigmund Freuds Theorien kaum denkbar wären. Um das Thema des Femizids dreht sich auch Kokoschkas erstes Drama Mörder, Hoffnung der Frauen. Der männliche Protagonist tötet am Ende des Stücks die Frau und verlässt als Sieger die Bühne. In der Figur des Mörders wurde wiederholt der Einfluss von Otto Weininger vermutet, dessen 1903 erschienenes Werk Geschlecht und Charakter heute zu den klassischen Dokumenten der Wiener Moderne zählt. Mithilfe Weiningers misogyner Thesen soll der Sinn des provokanten Titels Mörder, Hoffnung der Frauen erklärt werden. Kokoschka ergründet in seinem Frühwerk ein Thema, das auch Freud beschäftigte: den Zusammenhang zwischen Sexualität und Tod, Eros und Thanatos. Um im Tod endende Liebe geht es auch in seiner Prosa Der weiße Tiertöter, die Kokoschka als Fortsetzung der Träumenden Knaben verfasste. Der Ich-Erzähler ist wiederum ein Knabe, dessen »grausame Liebe» der Mondfrau gilt, die er mit dem Messer ersticht. Auch Kokoschkas »Zusammenleben» mit der Puppe als Abbild seiner verlorenen Geliebten Alma Mahler endet in einem zerstörerischen Akt, einer inszenierten Köpfung des Fetischs, die er zu einer Art Katharsis überhöht.

Der Vortrag analysiert frühe Bildwerke des Künstlers, wie Frauenmord (1909), die Illustrationen zu Mörder, Hoffnung der Frauen (1910), Selbstporträts mit der willenlosen Puppe (1922), etc. Wie in der Kokoschka-Forschung bereits bemerkt wurde, wird sein Umgang mit der Puppe als Vorläufer »surrealistischer Puppeninszenierungen rezipiert«. Der Vortrag spannt den Bogen zwischen Kokoschkas Darstellungen von Gewalt gegen Frauen, Theorien von Freud und der Rezeption seiner Inszenierung der Puppe durch die Surrealisten.

 

Régine Bonnefoit: Promotion in Kunstgeschichte (Universität Heidelberg, 1995) und Habilitation (Universität Passau, 2006); wissenschaftliche Assistentin am Département des Arts graphiques des Musée du Louvre (1992–1994); Forschungsstipendium am Kunsthistorischen Institut Florenz (1995–1998). Verleihung des Wolfgang-Ratjen-Preis 1998 »für herausragende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der grafischen Künste«. Volontariat an den Berliner Museen (2000–2001). Hochschulassistenz am kunsthistorischen Institut der Universität Lausanne (2001–2006). Konservatorin der Fondation Oskar Kokoschka in Vevey (2006–2016). Nach einer Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds Berufung zur ordentlichen Professorin für zeitgenössische Kunstgeschichte und Museologie an der Universität Neuchâtel. Nebenbei Kuratorin bzw. Co-Kuratorin zahlreicher Ausstellungen.

Dawn Adès: María Izquierdo: Feministin, Surrealistin, Revolutionärin

(Vortrag auf Englisch)

Das Thema der Gewalt gegen Frauen bildet ein Grundmotiv in den Werken von María Izquierdo (1902–1955), von den frühen Allegorien bis zum späten doppelten Selbstporträt mit abgeschlagenem Kopf, Traum und Vorahnung (1947). Es ist in gewissem Sinne überdeterminiert, da es mehrere Quellen und Bezüge aufweist, darunter die persönliche Geschichte der Künstlerin, der unmittelbare Kontext der mexikanischen Revolution und ihre Folgen sowie historische Darstellungen von Gewalt und Grausamkeit. Izquierdos Allegorien, die vom französischen Dichter und Künstler Antonin Artaud sehr bewundert wurden, sind einzigartig in ihrem Bestreben, neue Mythen zum Thema weibliche Unterwerfung und Widerstand zu schaffen, und werden im Mittelpunkt dieser Präsentation stehen.

 

Dawn Adès ist emeritierte Professorin an der University of Essex, Fellow der British Academy, ehemalige Kuratorin der Tate und der National Gallery, Professorin für Kunstgeschichte an der Royal Academy und wurde 2013 für ihre Verdienste um die Hochschulbildung mit dem CBE ausgezeichnet. In den vergangenen vierzig Jahren hat sie zahlreiche Ausstellungen im Vereinigten Königreich und auf internationaler Ebene (co-)kuratiert, darunter Dada and Surrealism Reviewed (1978); Art in Latin America (1989), die Hundertjahrfeier von Salvador Dalí im Palazzo Grassi in Venedig (2004), Undercover Surrealism: Georges Bataille and Documents (mit Simon Baker), Hayward Gallery (2006); und Dalí/Duchamp in der Royal Academy (2017). Neben den Katalogen zu diesen und anderen Ausstellungen erschienen unter anderem Photomontage (1976, überarbeitet 1986 und 2022), Marcel Duchamp (mit Cox & Hopkins, 1999 und 2022) und Selected Writings on Art and Anti-Art (2015). Ihre Forschung zu Dada und Surrealismus hat sich zunehmend auf die Künstlerinnen und Dichterinnen konzentriert, die mit diesen Bewegungen verbunden waren, mit Publikationen über Hannah Höch, Mina Loy, María Izquierdo, Frida Kahlo, Leonora Carrington und Claude Cahun.

Anna Watz: Surrealismus und Mutterschaft: Max Ernst und Dorothea Tanning

(Vortrag auf Englisch)

Im Surrealismus dient die Figur der Mutter oft als Beispiel für bürgerliche und religiöse Sittlichkeit und repressive Sexualmoral. Symbol für gesellschaftlichen Anstand und sexuelle Reinheit, ruft die Repräsentation der Mutter in der surrealistischen Kunst und Literatur auch häufig psychoanalytische Assoziationen zu Kastration und Verschlingung hervor. Die zahlreichen Verletzungen von Mutterfiguren in der surrealistischen Kunst wirken somit auf zwei Achsen gleichzeitig: Einerseits fungieren sie als Angriff auf repressive Normen, die sowohl die männliche als auch die weibliche Sexualität begrenzen; andererseits können sie als Verleugnung des Körpers der Mutter und als Rache an ihm für dessen kastrierende Drohung interpretiert werden.

Das Werk von Max Ernst, einem begierigen Leser psychoanalytischer Theorien, ist voller Verweise auf Kastration und elterliche Bestrafung sowie spöttischer Angriffe auf die katholische Sexualmoral. Sein Gemälde Die selige Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen aus dem Jahr 1926 ist ein Beispiel dafür; die Schändung des Bildes der Jungfrau Maria fungiert hier als Aufschrei gegen die von der Kirche propagierte repressive Doktrin der sexuellen Reinheit. In meinem Vortrag werde ich eine Lektüre von Ernsts Darstellungen der Mutterschaft (in Die selige Jungfrau und anderen Werken) einer Analyse einiger Werke seiner späteren Partnerin Dorothea Tanning (1910–2012), die Mutterschaft aufrufen, gegenüberstellen. Tannings Gemälde Mutterschaft (1946–47) beispielsweise stellt die Mutterschaft als einen Zustand der Isolation und Verzweiflung dar. Während Ernst und viele andere Surrealisten Gewalt gegen die Figur der Mutter darstellten, konzentriert sich Tannings Bild auf die soziale und zwanghafte Gewalt, die von dem ausgeht, was Adrienne Rich später die patriarchalische »Institution der Mutterschaft» nennen sollte.

Der letzte Teil meines Vortrags wird sich auf Tannings Werk der 1960er und 1970er Jahre konzentrieren, das sich dem Thema Mutterschaft aus einer revidierten psychoanalytischen Perspektive nähert. Nach meiner Lesart erarbeitet dieses Werk eine feministische Kritik an kulturellen Repräsentationen von Mutterschaft, die diese als kastrierend, abjekt und eine gewaltsame Ablehnung oder Bestrafung verdienend darstellen – eine Revision, die sich mit den Schriften zeit- genössischer psychoanalytischer Feministinnen deckt, die in ähnlicher Weise versuchten, das, was sie als phallozentrische Grundlagen der Freud'schen und Lacan'schen Psychoanalyse ansahen, neu zu schreiben.

 

Anna Watz ist außerordentliche Professorin für Englisch an der Universität Linköping, Schweden. Sie ist die Autorin von Angela Carter and Surrealism: 'A Feminist Libertarian Aesthetic' (Routledge, 2016) und Herausgeberin von Surrealist Women's Writing: A Critical Exploration (Manchester University Press, 2020) und A History of the Surrealist Novel (Cambridge University Press, 2023). Sie hat ausführlich über das Werk von Leonora Carrington und Dorothea Tanning publiziert und arbeitet derzeit an einer Monografie über die Überschneidung von surrealistischer Frauenkunst und -schrift und Theorien der écriture féminine.

Christina Wieder: Transgenerational/transnational. Gewalterfahrungen von Frauen im fotografischen Werk Grete Sterns

(Vortrag auf Deutsch)

Die deutsch-argentinische Fotografin Grete Stern (1904–1999) trug in den 1940er und 1950er Jahren durch ihr Schaffen maßgeblich zur Popularisierung und Verbreitung der Psychoanalyse in Argentinien bei. 1933 floh sie aus Deutschland nach London, 1936 wanderte sie nach Argentinien aus. Dort veröffentlichte sie in der Kolumne »El psicoanálisis te ayudará« (Psychoanalyse wird dir helfen) der Frauenzeitschrift Idilio Fotomontagen (1948–1951), die sich den Traumwelten ihrer Leserinnen widmeten. Diese Bilder erschienen (zwei-)wöchentlich als Ergänzung zur textlichen Traumanalyse und einem Glossar psychoanalytischer Begriffe, und erweiterten die Kolumne um eine visuelle und feministische Trauminterpretation. Markant prägten Sterns Positionen insbesondere zwei Analytikerinnen, welche sie während des Londoner Exils bzw. später in Buenos Aires kennengelernt hatte: die in London praktizierenden Paula Heimann und die nach Argentinien emigrierte Marie Langer, die sich intensiv dem Thema Mutterschaft widmete. Sterns fotografisches Werk beschäftigt sich nicht nur mit ihrer eigenen gewaltvollen Erfahrung der Flucht und des Exils, sondern ebenso mit Erfahrungen struktureller Gewalt durch die Marginalisierung von Frauen während des Peronismus und deren Reduktion auf den privaten Raum durch eine forcierte Mutterrolle. Was diese Fotomontagen aber besonders auszeichnen, sind ihre ästhetischen und motivischen Bezüge, die von einer transgenerationalen sowie transnationalen Gewalterfahrung von Frauen zeugen.

Sterns Traumvisualisierungen bilden damit einen Raum, um einerseits über das tabuisierte Thema der Gewalt gegen Frauen zu sprechen, und andererseits, um feministische Allianzen zu schmieden, die regionale als auch zeitliche Grenzen überschreiten. Die Technik der Fotomontage bietet hierfür ein besonderes Potenzial und bildet ein zentrales künstlerisches Verfahren, welches erlaubt, transnationale Gewalterfahrungen der Flucht mit regionalen, etwa der staatlich oktroyierten Mutterrolle, zu verbinden, oder aber die gewaltgeprägte Gegenwart im Peronismus mit generationenübergreifenden Gewalterfahrungen von Frauen zu verknüpfen, etwa mit Hexenverbrennungen, Zwangsheiraten oder anderen Formen der staatlichen Kontrolle weiblicher Körper. Mein Beitrag will Sterns Traum-Fotomontagen im Spannungsfeld von Ästhetik und Psychoanalyse betrachten und insbesondere auf die unterschiedlichen Dimensionen der Gewalt gegen Frauen hin befragen sowie deren transnationalen und transgenerationalen Charakter besprechen.

 

Christina Wieder ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie promovierte mit der Arbeit Visuelle Transformationen. Das Exil der jüdischen Künstlerinnen Grete Stern, Hedy Crilla und Irena Dodal am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte des Instituts für Zeitgeschichte und Lektorin am Institut für Judaistik der Universität Wien, Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK Wien) sowie Gastforscherin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, am Instituto de Artes del Espectáculo der Universidad de Buenos Aires und an der Cinémathèque française. 2020/21 war sie als Universitätsassistentin am Institut für Romanistik der Universität Wien tätig und arbeite zu Liebes-, Sexualitäts- und Familiendiskursen in der anarchistischen Frauenbewegung in Spanien und Argentinien. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Sonderfall Angewandte. Die Universität für angewandte Kunst im Austrofaschismus, Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit«.

Lisa Ortner-Kreil: It Hurts ... Angriff und Verteidigung im Werk von Kiki Kogelnik

(Vortrag auf Deutsch)

Kiki Kogelnik (1935–1997) war eine auf internationalem Niveau lebende und arbeitende Künstlerin. Ihr medienübergreifendes Werk umfasst Malerei, Zeichnung, Skulptur, Objekte, Keramik und performative Praktiken. Kogelniks Themen sind erstaunlich aktuell: die Errungenschaften und Auswüchsen der Konsumgesellschaft, Vor- und Nachteile des technischen Fortschritts, Medizin und Diagnostik sowie, immer und immer wieder, der (weibliche) Körper und seine Implikationen. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst und der Akademie der Bildenden Künste ging Kogelnik 1962 nach New York, wo sie zunächst Gemälde, später auch Vinyl-Objekte, die sogenannten »Hangings«, fertigt, die klar unter dem Eindruck der Pop Art stehen, zu der sie sich selbst allerdings nie zählte. Ab den 1970er-Jahren bricht sich ein feministischer und kämpferischer Ton in Kogelniks Werk Bahn: Für ihre »Women Paintings«, großformatige, ganzfigurige weibliche Porträts, orientiert sich die Künstlerin an Aufnahmen aus Modezeitschriften, die sie für ihre Gemälde reinszeniert: Exaltierte Posen und High Fashion verschmelzen und lassen den weiblichen Körper als Fetisch erscheinen. Eine latente Gewaltnote zieht ab 1974 mit der Gemälde-Serie It Hurts ein. Hammer, Schere und Messer attackieren die in Grau, Weiß und Schwarz gehaltene Frauenkörper, scheinen diesen aber gleichzeitig auch zur Verteidigung zur Verfügung zu stehen. Die Schere dient der Künstlerin sowohl als Arbeitsinstrument – zum Ausschneiden ihrer sogenannten Cut- Outs, die sie in Gemälden und Hangings verarbeitet – als auch als Waffe. In Womens Lib, einer Arbeit aus dem Jahr 1971, gibt sich die Künstlerin frontal und selbstbewusst zu erkennen, in den Händen hält sie eine überdimensionale Schere, deren Beine, parallel zu ihren eigenen, geöffnet sind. Zu ihren Füßen liegen eine Vielzahl ausgeschnittener Körpersilhouetten. Die Anwesenheit von Gewalt und die Frage, wie Kogelniks Bildprotagonistinnen dieser mit Mitteln von Angriff und Verteidigung begegnen, stehen im Zentrum des Vortrags, in dessen Rahmen auch eine Reihe von bis dato unpubliziertem Bild- und Textmaterial gezeigt wird. Herausgestellt werden soll, wie Kogelnik in ihrem Werk körperliche und seelische Aggression thematisiert und mit welchen visuellen Strategien der Selbstermächtigung und des Widerstands sie diesen begegnet.

 

Dr. Lisa Ortner-Kreil ist Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin und seit 2013 Kuratorin am Bank Austria Kunstforum Wien. Zuvor war sie Mitarbeiterin der Albertina Wien und des Royal Museum of Fine Arts in Brüssel. Lisa Ortner-Kreil hat international beachtete Ausstellungen kuratiert, unter anderem Gerhard Richter: Landschaft (2020/2021) (zusammen mit Hubertus Butin und Cathérine Hug); Man Ray (2018) und Martin Kippenberger: XYZ (2016). Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu moderner und zeitgenössischer Kunst, Mitglied mehrerer Kunst-Jurys und Lehrbeauftragte an der Universität für Angewandte Kunst Wien. 2020 hat sie, gemeinsam mit Barbara Horvath, die Gegenwartskunstiniative »art hoc projects« gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, internationale Gegenwartskunst an atypische Orte zu bringen, um so neue Räume und ein neues Publikum für die Kunst zu erschließen.

Jeannette Fischer: Die Darstellung des weiblichen Körpers in den Performances von Marina Abramović

(Vortrag auf Deutsch)

Im März 2010 saß Marina Abramović während 90 Tagen bewegungslos und ohne Unterbrechung während der Öffnungszeiten des Museums (wochentags acht und am Wochenende zehn Stunden pro Tag) den Besucher:innen gegenüber, blickte ihnen in die Augen und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie. Marina Abramović nannte diese Performance im Nachhinein Mission Impossible, da sie ihr alles abverlangte. Ich gehe der Frage nach, wie Marina Abramović in dieser Performance den weiblichen Körper darstellt, wie sie die Gewalt am weiblichen Körper thematisiert: eine Gewalt, die niemand wahrnimmt und die auch nicht zur Sprache kommt. Anhand von Gefühlsübertragungen, die an den Besucher:innen ablesbar werden – ganz viele weinen, währenddem sie ihr gegenübersitzen –, stellt sich die Frage, wer weint nun weswegen und warum gerade jetzt? Es scheint, dass der weibliche Körper als Resonanzraum vieler Gefühle zur Darstellung gebracht wird, in dem er selber alles, was ein Körper braucht, zu entbehren hatte: Essen, zur Toilette gehen, schwatzen, trinken, sich bewegen und vieles mehr. Wie weit hat der weibliche Körper diese Gewalt auf sich zu nehmen, um der Katharsis eines anderen zu dienen?

 

Jeannette Fischer praktizierte 30 Jahre als Freud'sche Psychoanalytikerin in Zürich. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Frage der Gewalt, Macht und Ohnmacht. Sie kuratierte hierzu Ausstellungen und drehte zwei Dokumentarfilme. Seit Jahren führt sie »aus psychoanalytischer Sicht« durch Kunstausstellungen und ist als Interviewpartnerin in Filmen über Kunst zu sehen. 2018 erschienen ihre Bücher Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović und Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten. Im Frühjahr 2021 erschien ihr Buch Hass und im Frühling 2022 Psychoanalytikerin trifft Helene und Wolfgang Beltracchi.

Patricia Allmer: Ruth Beckermanns Mutzenbacher oder Der Akt des Lesens auf der Couch

(Vortrag auf Englisch)

Ruth Beckermanns neuester Film Mutzenbacher (2022) beschäftigt sich mit »Österreichs berüchtigtstem Stück Kinderpornographie« (Clemens Ruthner). Das 1906 veröffentlichte, anonym verfasste, aber Felix Salten (dem Schöpfer von Bambi) zugeschriebene und in Österreich bis 1971 verbotene Buch hat die sexuelle Sozialisation von Männern und Frauen in Österreich und darüber hinaus maßgeblich beeinflusst. Beckermanns Film, eine Mischung (wie die Regisseurin anmerkt) »aus Feldexperiment und Fiktion«, basiert auf einem Casting-Aufruf für Männer zwischen 16 und 99 Jahren für eine geplante Verfilmung des Romans. Der Film, der in einer ehemaligen Sargfabrik gedreht wurde, zeigt Männer, die manchmal allein, zu zweit oder in Gruppen von drei oder vier Personen kurze Passagen aus dem Buch lesen und diskutieren.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass der Film rund um das zentrale Requisit der rosa Couch – die zu Analogien mit der Freud'schen Psychoanalyse und der Hollywood-Casting-Couch einlädt – eine Reihe von »polymorph-perversen« Beziehungen, Verstrickungen, Anklängen, Annäherungen, Kontinuitäten und Brüchen zwischen aktuellen und historischen österreichischen nationalen und kulturellen Phantasien und Geschichten über Gewalt gegen Frauen konstruiert. Auf einer anderen Ebene, so wird argumentiert, bildet der Film eine Fortführung von Beckermanns Projekt, »fehlende Bilder» zu befragen, wie dies auch in Filmen wie Jenseits des Krieges (1996) und ihrer Installation The Missing Image (2015) erfolgt. Dabei interessiert sich Mutzenbacher für die Reaktionen des Publikums auf hoch problematische Narrative wie auch dafür, wie es durch Prozesse der Akzeptanz, Rationalisierung, Sublimierung und Konventionalisierung an deren kultureller Assimilation beiträgt. Diese Begriffe werden in Mutzenbacher durch den Fokus auf den männlichen Leser untersucht, wobei zwei Schlüsselprozesse im Mittelpunkt stehen: das »Handeln« (von der theatralischen Aufführung und dem sexuellen Akt bis hin zum Handeln und zum Ausagieren der eigenen Phantasien) und das »Lesen« (die Interpretation von Erzählungen, aber auch performative und körperliche Aspekte des Leseakts). Dabei bietet Beckermann ambivalente, beunruhigende Einblicke in die verdeckten Überschneidungen zwischen Lesen, performativer Männlichkeit und Elementen der kulturellen Neigung Österreichs zu gewalttätiger Misogynie.

 

Patricia Allmer ist Professorin für moderne und zeitgenössische Kunstgeschichte an der Universität von Edinburgh. Zu ihren zahlreichen Büchern gehören The Traumatic Surreal: Germanophone Women Artists and Surrealism after the Second World War (Manchester UP, 2022), René Magritte (Reaktion Press, 2019), Lee Miller: Photography, Surrealism, and Beyond (Manchester UP, 2016); und der Sammelband Intersections: Women Artists/ Surrealism/Modernism (Manchester UP, 2016).

Sie kuratierte die preisgekrönte Ausstellung Angels of Anarchy: Women Artists and Surrealism (Manchester Art Gallery/Prestel, 2009) und hat wichtige Ausstellungen mitkuratiert, darunter Taking Shots: The Photography of William S. Burroughs (2014, Prestel) in der Photographers' Gallery, London. Sie hat Essays für zahlreiche internationale Ausstellungs- kataloge verfasst, darunter Surrealism Beyond Borders (The Metropolitan Museum of Art und TATE Gallery, 2022), Fantastic Women (Schirn Kunst- halle, Frankfurt/Louisiana Museum of Modern Art) und Peggy Guggenheim: The Last Dogaressa (Peggy Guggenheim Collection, Venedig, 2019).

Monika Pessler trifft Soli Kiani – Kunst von Frauen als Ausdruck politischen Protestes

(Gespräch auf Deutsch)

Die iranisch-österreichische Künstlerin Soli Kiani, die in ihren eindrucksvollen Arbeiten in verschiedenen Medien die Unterdrückung von Menschenrechten im Iran zum Ausdruck bringt, und Monika Pessler, Direktorin des Sigmund Freud Museums und Kunsthistorikerin, deren Ausstellungen die Bedeutung und die Interventionsmöglichkeiten der Kunst in unserer Gesellschaft beleuchten, diskutieren über die sozialpolitische Wirksamkeit zeitgenössischer Kunst, über Autobiografisches, den Umgang mit dem Thema der Rückgewinnung des weiblichen Körpers und die iranische kulturelle Identifikation in der Diaspora.

»Wie schlimm der Kontrollverlust über das eigene Leben oder den Tagesablauf sein kann, haben wir alle mehr oder weniger seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, unabhängig von Nation, Hautfarbe, Religion oder Geschlecht erleben müssen. Aber was ist, wenn dieser Kontrollverlust nicht durch eine weltweite Pandemie verursacht wird und doch völlig unfreiwillig geschieht? Wie ist es, wenn man von Geburt an in einem Land, einer Gesellschaft oder einer Familie aufwächst, die verhaftet ist in Ideologien, welche einem de facto in jedem Bereich des täglichen Lebens vorschreibt, wie man sich zu verhalten und benehmen hat? Wenn per Gesetzt festgelegt wird, welche Konsequenzen es hat, wenn man diese Regeln nicht befolgt oder es wagt sich dagegen zu wehren? Das Gefühl, dass einem die Luft zum Atmen wegbleibt, wird dann zum Dauerzustand!

In dieser Situation bekommen Kontrollverlust und Freiheit eine andere Dimension und Wertigkeit! Mit diesen Themen setze ich mich in meiner Arbeit auseinander.« (Soli Kiani, Dez. 2022)

 

Soli Kiani: 1981 geboren in Shiraz, Iran; lebt und arbeitet seit 2000 in Wien; 2007 Studium der Malerei, Animationsfilm und Tapisserie bei Christian Ludwig Attersee und Judith Eisler an der Universität für Angewandte Kunst Wien, Abschluss 2012. Ausstellungen umfassen u.a. BACA Kunstforum: tresor, Ossian / Rebillion (Wien), Galerie Sophia Vonier: Blurred Borders (Salzburg), FOTO WIEN: 2=1 (Wien), Neue Galerie Graz: Ladies and Gentlemen / Das fragile feministische Wir (Graz), House of Losing Control: Promising Paradise (Vienna Art Week), Sotheby’s (Artist Quarterly): Erziehung / Tarbiat (Wien), Chances-Changes-Rituals (Vienna Art Week), Strabag Kunstforum: Ausgeschlossen / Mahroum (Wien) und Kunsthaus Horn: A Matter of Form.

Monika Pessler studierte Kunstgeschichte, absolvierte eine Ausbildung zur Museums- und Ausstellungskuratorin am Institut für Kulturwissenschaften an der Donauuniversität Krems. 2014 erfolgte der Abschluss des Masterstudiums in Organisationsentwicklung am IFF, Alpen Adria Universität Kärnten. Sie war als Kuratorin am heutigen Museum Moderner Kunst Kärtnten beschäftigt, dem zeitgenössischen Kunstfestival »steirischer herbst« und leitete von 2003 bis 2013 die Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung. Seit 2014 ist sie die Direktorin des Sigmund Freud Museums in Wien. Umfassende Ausstellungtätigkeit, Vorträge und Publikationen zur zeitgenössischen Kunstproduktion, Architektur, Museumsorganisation und -entwicklung.

Elisabeth Schäfer: Schlussbetrachtungen

Elisabeth Schäfer ist Philosophin am Institut für Philosophie der Universität Wien, wo sie seit 2010 unterrichtet, und an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie derzeit eine Postdoc-Stelle im Rahmen des FWF PEEK- Forschungsprojekts »Performing Primal Communism« [AR 568] innehat. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind: Dekonstruktion, Queer- Feministische Philosophie, Écriture féminine, Schreiben als künstlerische Forschung, Performance Philosophie. Sie realisiert laufend Vorträge, Lecture Performances, Interventionen etc.

Elana Shapira: Moderation

Elana Shapira ist Kultur- und Kunsthistorikerin; sie lehrt an der Universität Wien, an der Central European University und an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie ist Spezialistin für die Erforschung der Wiener Moderne. In ihrer aktuellen Forschung konzentriert sie sich auf Leben und Werk von Künstlerinnen und Architektinnen in Österreich und darüber hinaus. Shapira hat internationale Symposien und Workshops zu den Themen Designerinnen und Architektinnen, Emigration und Kulturtransfer sowie Juden und kulturelle Identität in der mitteleuropäischen Moderne organisiert. Zusammen mit Daniela Finzi ist sie Mitherausgeberin des Sammelbandes Freud and the Émigré (2020). Demnächst erscheint der von ihr gemeinsam mit Anne-Katrin Rossberg herausgegebene Sammelband Gestalterinnen. Frauen, Design und Gesellschaft im Wien der Zwischenkriegszeit (2023).

Daniela Finzi: Moderation

Daniela Finzi ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sigmund Freud Museum tätig, ist sie seit 2016 wissenschaftliche Leiterin und Vorstandsmitglied der Sigmund Freud Privatstiftung. Sie ist im Vorstand des kulturwissenschaftlichen Vereins aka – Arbeitskreis Kulturanalyse, Mitglied des Herausgebergremiums von aka/ Texte (Turia+Kant) sowie von Sigmund Freuds Werke. Wiener Interdisziplinäre Kommentare (Vienna University Press, Vandenhoeck&Ruprecht). Zu ihren jüngsten Publikationen zählt der mit Monika Pessler herausgegebene Katalog FREUD. Berggasse 19 – Ursprungsort der Psychoanalyse (Hatje Cantz, 2020) und, gemeinsam mit Elana Shapira, der Sammelband Freud and the Émigré (Palgrave Macmillan, 2020).