Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und ihr Vorstandsbeschluss vom 13. März 1938

Bereits 1908 formiert sich die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) als erste psychoanalytische Organisation der Welt. 1910 erfolgt die offizielle Vereinsgründung. Von Anfang an zieht die WPV aufgrund des kulturkritischen Denkens der Psychoanalyse Sozialdemokrat:innen und andere Personen aus dem linken politischen Spektrum an.


Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich am 12. März 1938 scheint die WPV unausweichlich vor ihrem vorläufigen Ende zu stehen. Hier in der Berggasse, im Wartezimmer, wird am 13. März eine Vorstandssitzung der WPV unter der Leitung von Anna Freud einberufen. Zwei Beschlüsse werden gefasst und anschließend Sigmund Freud mitgeteilt. 1) Alle Mitglieder sollen ehestmöglich das Land verlassen und 2) der Sitz der Wiener Vereinigung soll an den künftigen Wohnort Freuds verlegt werden.


Die politischen Ereignisse treffen die Wiener:innen nicht ohne vorherige Warnsignale. Nach Hitlers Ernennung zum »Reichskanzler« im Jänner 1933 sind viele der in Deutschland ansässigen Psychoanalytiker:innen gezwungen, das Land zu verlassen. Bereits mit der im März 1933 einsetzenden Ausschaltung des Parlamentes in Österreich und der Etablierung des autoritären austrofaschistischen Regimes war es für die sozialistisch orientierten Psychoanalytiker:innen wie Siegfried Bernfeld, Josef Karl Friedjung, Helene und Felix Deutsch oder Edith Buxbaum nicht mehr möglich, in Wien zu bleiben.

„Als Freud Platz genommen hatte, teilte Anna ihm den Entschluss der Mitglieder zu emigrieren mit. Freud sagte darauf: ‚Nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch den Kaiser Titus richtete Rabbi Jochanan ben Sakkai ein Gesuch an den Kaiser um die Erlaubnis, in Jabneh eine Schule für das Studium der Torah zu eröffnen. Wir werden das gleiche tun. Wir sind an Verfolgung gewöhnt, durch Geschichte, Tradition und einige von uns durch persönliches Erlebnis ….“

Richard F. Sterba, 1982

Richard Sterba

Richard Sterba wird am 6. Mai 1898 in Wien in eine katholische Familie geboren. Noch vor der Matura (Abitur) wird er zum Kriegsdienst eingezogen. Anschließend studiert
er Medizin und promoviert 1923 an der Universität Wien. 1924 beginnt er seine Lehranalyse bei Eduard Hitschmann, 1926 heiratet er Editha von Radanovicz-Hartmann, die später ebenfalls Psychoanalytikerin wird. Ab 1928 ordentliches Mitglied der WPV, arbeitet er ab 1929 als Lehranalytiker.


Nach dem »Anschluss« sind nur fünf WPV-Mitglieder nicht von den »Nürnberger Rassengesetzen« betroffen. Um nicht als einziger Mediziner und Nicht-Jude mit einer offiziellen Funktion – die ihm eine Emigration sehr erschwert hätte – betraut zu werden, reist Sterba mit seiner Familie bereits am 16. März 1938 in die Schweiz aus. Die Beschaffung von Visa für die Vereinigten Staaten erweist sich als schwierig: Die in Budapest geborene Editha gilt für die amerikanischen Behörden als Ungarin, die Quote für Visa aus Ungarn ist indes bereits erfüllt. Im Juni 1938 reist Sterba nach London, um Ernest Jones um Unterstützung zu bitten. Jones und Anna Freud raten ihm zur Emigration nach Johannesburg; die südafrikanischen Behörden verweigern jedoch die Aufnahme. Schließlich kann Sterba auf Vermittlung einer ehemaligen Patientin
ein »affidavit of support« für seine Frau erlangen und so doch noch in die USA emigrieren. Am 2. Februar 1939 reisen die Sterbas mit ihren beiden Töchtern Monika (5 Jahre) und Verena (2 Jahre) mit dem Dampfschiff Normandie ein und lassen sich in Detroit nieder.


1940 gründet Richard Sterba die Detroit Psychoanalytic Society, der er von 1946 bis 1952 vorsteht. Er richtet sie ganz im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse – sowie als »one-man-institute «, so die Kritik seiner Detroiter Kolleg:innen – aus. Die internen Spannungen eskalieren bis hin zur Auflösung der Gesellschaft 1953. Richard und Editha Sterba verlieren daraufhin ihre Lehrbefugnis. Als 1957 die analytische Ausbildung in Detroit unter der Leitung der New York Psychoanalytic Society und unter Beteilung ehemaliger WPV-Mitglieder wieder eingerichtet wird, sind die Sterbas nicht beteiligt. Weiterhin lehrt Sterba als Professor für Psychiatrie an der Wayne State University in Detroit.


Am 24. Oktober 1989 stirbt Sterba, bis ins hohe Alter hinein als Psychoanalytiker tätig geblieben, in Grosse Pointe, einem Vorort von Detroit.

Meldezettel

Meldezettel von Richard Sterba, „Nervenarzt“, mit Einträgen zu seiner Frau Editha und den Töchtern Monika und Verena. Die offizielle Abmeldung ist erst am 11. November 1939 erfolgt, darunter ist vermerkt: „Ausreise nach dem Umbruch in die Schweiz“. Wiener Stadt- und Landesarchiv

Typoskript

Auszug aus Richard Sterbas dreiseitigem Typoskript „When we have lost someone" mit handschriftlichen Korrekturen (Faksimile). Darin schildert er seine letzte Begegnung mit Sigmund Freud im Rahmen der Vorstandssitzung vom 13. März 1938 und dessen Worte: „Then he said, just before he left us: ‘Hold fast to the truth.’”

Die Schiffsmanifeste von Ellis Island

Jedes Manifest besteht aus zwei Seiten mit insgesamt 37 Feldern für verschiedenste Angaben. Die linke Seite enthält zentrale Daten wie Namen, Alter, Geschlecht, Familienstand (Felder 1-6) oder Geburtsort (Feld 11) und letzter Aufenthaltsort (Feld 15), aber auch Auskünfte über Lese-, Sprach- und Schreibkenntnisse (Feld 8). Die rechte Seite enthält tiefergehende Informationen über die Einreisenden: Neben der geplanten Aufenthaltsdauer (Feld 24) und Zieldestination musste der/die nächste Verwandte oder Freund:in im Herkunftsland angegeben werden (Feld 17-18), wer für die Überfahrt bezahlt halt und ob die einreisende Person 50 $ oder weniger besitzt (Felder 20-21). Auch wurde die Einstellung zu Anarchie und Polygamie abgefragt, etwaige Pläne, die Regierung zu stürzen mussten ebenfalls angegeben werden (Felder 26-28). Weiters wurden Größe, Gewicht, Haut- und Haarfarbe sowie der körperliche und mentale Gesundheitszustand (Feld 32-36) vermerkt. Quelle: The Statue of Liberty – Ellis Island Foundation