Im Land der (un)begrenzten Möglichkeiten

Die Mehrheit der Wiener Mitglieder und Kandidat:innen der WPV emigriert in die USA, insbesondere nach New York, aber auch nach Boston, Chicago und Los Angeles, zu den vier führenden psychoanalytischen Instituten des Landes. All jene, die keine medizinische Ausbildung aufweisen, betreten die USA mit einem enormen Startnachteil: Anders als vormals in Österreich dürfen Laienanalytiker:innen hier nicht Mitglieder von psychoanalytischen Ortsgruppen sein und als Psychoanalytiker:innen praktizieren. Sie müssen sich anderen Berufsfeldern wie der Pädagogik oder der Sozialarbeit zuwenden.


Im Unterschied zu Europa, wo die Wissenschaft des Unbewussten seit jeher auf Widerstand an den Universitäten stößt, ist die Psychoanalyse in den USA seit den 1930er-Jahren etabliert. Daher eröffnen sich für einige Wiener Emigrierte im amerikanischen Exil Möglichkeiten, die ihnen andernorts wahrscheinlich verschlossen geblieben wären.

In der New York Psychoanalytic Society, der einflussreichsten und größten psychoanalytischen Vereinigung der USA, bilden die Wiener Emigrant:innen nach Kriegsende nicht nur die zahlenmäßig größte Gruppe. Auch einzelne wichtige Positionen, sei es in der Ausbildungskommission, im Vorstand oder im Ambulatorium, werden zunehmend von ehemaligen WPV-Mitgliedern bekleidet. Jene, die in Wien Freud persönlich nahestanden, ihre Lehr- oder Kontrollanalyse bei ihm absolviert hatten, genießen und erwarten wohl auch besondere Wertschätzung. Zwangsläufig führt diese Konstellation, die die alteingesessenen New Yorker Mitglieder in den Hintergrund drängt, zu Konflikten und Kämpfen innerhalb des Institutes.

„Als wir in dieses Land kamen, das war 1938, fanden wir hier in den Vereinigten Staaten alles vor, was wir in Österreich gesucht und nicht gefunden hatten … Es wäre unmöglich gewesen, eine kritische Haltung einzunehmen und den Widerstand aufrechtzuhalten, in dem wir in Österreich gelebt hatten, … Deshalb haben die eingewanderten Analytiker ihre revolutionäre Einstellung aufgegeben. … Es gab nur eine mögliche Reaktion, … größte Dankbarkeit Roosevelt und dem Land gegenüber, in dem man mit so viel Liebenswürdigkeit aufgenommen worden war und überleben konnte.“

Kurt Eissler, 1984

Grete L. Bibring

Grete L. Bibring, gebürtige Lehner, kommt am 11. Jänner 1899 als jüngstes Kind einer jüdischen Intellektuellen-Familie in Wien zur Welt. Bereits als Schülerin entdeckt sie die Schriften Sigmund Freuds. Während des Medizinstudiums lernt sie das WPV-Mitglied Otto Fenichel kennen, der sie auf das »Wiener Studentenseminar für Sexologie«, das sie bald mit Wilhelm Reich und ihrem späteren Ehemann Edward Bibring selbst organisieren wird, aufmerksam macht. Während der Studienjahre absolviert sie eine Lehranalyse bei Hermann Nunberg, nach der Promotion 1924 erhält sie ihre fachärztliche Ausbildung in Psychiatrie und Neurologie. 1925 wird sie Mitglied der WPV. Ende der 1920er-Jahre eröffnet sie mit ihrem Mann eine Privatpraxis und arbeitet zudem im Ambulatorium sowie ab 1934 im Lehrausschuss der WPV.


Am 15. Mai 1938 reist sie mit ihrem Mann, den beiden Söhnen Georg (9 Jahre) und Thomas (7 Jahre) und ihrer Mutter nach London aus. Bald erfolgt die Aufnahme als Lehranalytikerin innerhalb der British Psychoanalytical Society (BPS), doch die berufliche Situation für neu angekommene Analytiker:innen in London während der Kriegsjahre bleibt schwierig. Auf dem Schiff M.V. Georgic emigriert die Familie am 11. Februar 1941 über New York nach Boston, wo bereits die früheren Kolleg:innen Helene und Felix Deutsch wirken. Beide Bibrings werden Mitglieder und Lehranalytiker:innen der Bostoner Psychoanalytischen Vereinigung. Bereits ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft nimmt Grete L. Bibring eine in Wien gepflegte Tradition auf: regelmäßige Dinnerparties für Kolleg:innen und Freund:innen. Die Speisepläne hält sie minutiös fest.


Bibrings berufliche Laufbahn in den USA ist vielfältig und erfolgreich – nicht zuletzt dank ihrer Ausbildung als Psychiaterin und der in den Staaten vorherrschenden reformorientierten psychiatrischen Bewegung. 1946 übernimmt sie die Leitung der psychiatrischen Abteilung des Beth Israel Hospital in Boston und erhält 1961 als erste Frau eine Professur für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Innerhalb der Psychoanalytischen Vereinigungen bekleidet sie in den 1950er- und 1960er-Jahren zahlreiche Führungspositionen. Auch nach ihrer Pensionierung hält sie am Radcliff College Seminare über weibliche Erziehung und berufliche Karrieren von Frauen.


Grete L. Bibring stirbt am 10. August 1977 in Cambridge, Massachusetts.

Einer der ersten Speisezettel von Grete Bibring im neuen Zuhause in Boston: Am 16. Juli 1941 gab es nachmittags „Bridgerolls“ – schmale gefüllte Weißbrötchen, wie sie in Großbritannien ab den 1930er-Jahren beliebt waren – mit unterschiedlichen Füllungen, darunter „Liptauer“, eine österreichische, pikante Spezialität. Zu Gast waren u.a. auch zwei ehemalige Kolleginnen aus Wien bzw. London: Elisabeth („Liesl“) Schwarz und Josefine („Fifi“) Stroß. Boston Psychoanalytic Society and Institute Archives

Die Schiffsmanifeste von Ellis Island

Jedes Manifest besteht aus zwei Seiten mit insgesamt 37 Feldern für verschiedenste Angaben. Die linke Seite enthält zentrale Daten wie Namen, Alter, Geschlecht, Familienstand (Felder 1-6) oder Geburtsort (Feld 11) und letzter Aufenthaltsort (Feld 15), aber auch Auskünfte über Lese-, Sprach- und Schreibkenntnisse (Feld 8). Die rechte Seite enthält tiefergehende Informationen über die Einreisenden: Neben der geplanten Aufenthaltsdauer (Feld 24) und Zieldestination musste der/die nächste Verwandte oder Freund:in im Herkunftsland angegeben werden (Feld 17-18), wer für die Überfahrt bezahlt halt und ob die einreisende Person 50 $ oder weniger besitzt (Felder 20-21). Auch wurde die Einstellung zu Anarchie und Polygamie abgefragt, etwaige Pläne, die Regierung zu stürzen mussten ebenfalls angegeben werden (Felder 26-28). Weiters wurden Größe, Gewicht, Haut- und Haarfarbe sowie der körperliche und mentale Gesundheitszustand (Feld 32-36) vermerkt. Quelle: The Statue of Liberty – Ellis Island Foundation

„Ich erinnere mich noch der Panik, die unter den jüdischen Intellektuellen ausbrach, als die Nazitruppen im März 1938 in Wien einmarschierten. Die Wiener Analytiker waren natürlich auch stark betroffen, aber doch weniger von Panik ergriffen als andere. Tatsächlich benahmen sie sich in einer sehr ‚analytischen‘ Weise, indem sie sich, wie dies der Tradition der tüchtigsten Freimaurer entsprach, zusammenschlossen und dafür sorgten, dass jeder jüdische Analytiker in Sicherheit übersiedeln konnte.“

Margaret S. Mahler, 1988

Margaret S. Mahler

Margaret S. Mahler wird am 10. Juli 1897 als Margarethe Schönberger in eine jüdische Familie in Ödenburg/Sopron im heutigen Ungarn geboren. Ihr 1917 in Budapest begonnenes Medizin-Studium mit Schwerpunkt Kinderheilkunde setzt sie in München, Jena und Heidelberg fort. Nach der Promotion 1922 arbeitet sie in Wien als Kinderärztin. Über Willi Hoffer kommt sie mit der Psychoanalyse in Kontakt und lernt August Aichhorn kennen. Sie beginnt 1926 eine Lehranalyse bei Helene Deutsch, die Mahler jedoch als ungeeignet für die Psychoanalyse einschätzt. Sie kann ihre Analyse bei Aichhorn sowie später bei Hoffer fortsetzen; 1933 wird sie als außerordentliches Mitglied der WPV aufgenommen.


Durch die Intervention einer Patientin erlangen sie und ihr Mann Paul Visa für temporären Aufenthalt in Großbritannien, wo sie im Mai 1938 ankommen. Die Kosten für die Wohnung in Hampstead werden von der British Psychoanalytical Society (BPS) übernommen, die auch ein Darlehen für die Reise in die Vereinigten Staaten zur Verfügung stellt. Dorothy Burlingham wiederum interveniert bei der amerikanischen Botschaft in Großbritannien, sodass die Ausreiseanträge schneller bearbeitet werden. Am 13. Oktober 1938 können die Eheleute an Bord der Queen Mary nach New York ausreisen, wo sie von der WPV-Kollegin Bertha Bornstein persönlich in Empfang genommen werden.

 

1940 wird Mahler Mitglied der New York Psychoanalytic Society und erhält einen Lehrauftrag für Psychiatrie an der Columbia University. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt sind kindliche Psychosen. 1945 wird sie über den Tod ihrer Mutter unterrichtet, die 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie verfällt in eine schwere Depression und beginnt eine weitere Analyse bei Edith Jacobson. 1950 gründet sie einen therapeutischen Kindergarten für psychotische Kinder am Einstein College in New York. In den folgenden Jahren leitet sie das Ausbildungsprogramm des Philadelphia Psychoanalytic Institute. 1975 veröffentlicht sie ihre wohl bekannteste Studie Die psychische Geburt des Menschen, die auf beobachtender Forschung in einer natürlichen Umgebung basiert.


Am 2. Oktober 1985 stirbt Margaret S. Mahler in New York. Ihrem letzten Willen entsprechend, wird ihre Asche neben dem Grab ihres Vaters auf dem jüdischen Friedhof in Sopron beigesetzt.

Brief von Margaret S. Mahler an August Aichhorn vom 28. Mai 1948. „Nach Österreich ist es schwer zu fahren und ich habe diesen Plan vor 10 Monaten bereits aufgegeben. Offenbar habe ich eine große Abneigung dahinzufahren – seien Sie mir nicht böse. Ich weiß, Sie werden versuchen, mich zu verstehen.“ Mahler hat es nach 1945 konsequent abgelehnt, nach Österreich zu reisen.

Archiv Thomas Aichhorn, Wien

AUDIO: Reminiscences of Margaret S. Mahler 1974

Ausschnitte eines am 15. November 1974 mit Bluma Sverdloff geführten Interviews. Columbia University Libraries

Paul Federn

Paul Federn wird am 13. Oktober 1871 in eine angesehene jüdische Wiener Familie geboren. Als junger Erwachsener führt er das Leben eines Bohemiens, auf Wunsch des Vaters beginnt er ein Medizinstudium. Nach der Promotion 1895 absolviert er eine Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin und eröffnet 1902 eine Privatpraxis. Im darauffolgenden Jahr lernt er Sigmund Freud kennen und zählt bald zu dessen allererstem Zirkel, der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft.


1919 veröffentlicht er seine Studie über die psychologischen Beweggründe der Ersten Republik: Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft. In den frühen 1920er-Jahren wird der überzeugte Sozialist, der sich für Themen wie Sexualerziehung, Familienfürsorge und Frauenemanzipation interessiert, einer der führenden Lehranalytiker der WPV und ist maßgeblich an der 1922 erfolgenden Gründung ihres Ambulatoriums und des Lehrausschusses beteiligt. 1924 wird er von Freud – neben Anna – zu seinem offiziellen Vertreter ernannt und zum Vizepräsidenten der WPV gewählt. 1926 gibt er mit Heinrich Meng Das Psychoanalytische Volksbuch im Hippokrates-Verlag heraus.


Am 29. August 1938 kann der mittlerweile völlig mittellose Federn über Schweden, das er bereits nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge eines Lehraufenthalts in Stockholm bereist hat, an Bord der Drottningholm in die USA flüchten. 1940 wird er Ehrenmitglied der New York Psychoanalytic Society, für die Vollmitgliedschaft muss er sich erneut medizinischen Rigorosen stellen. Erst 1946 wird er als Arzt anerkannt. Einer seiner bekanntesten Patient:innen in New York ist der exilierte Wiener Schriftsteller Hermann Broch, mit dem er ab 1939 eine Korrespondenz über Themen wie Weltbürgertum, Menschenrechte und Massenwahntheorie unterhält.


Nach Jahren des brieflichen Austausches kann er 1948 seinen Sohn Ernst, der die KZ Dachau und Buchenwald überlebt und sich für sein Studium in New York niederlässt, wiedersehen. 1949, nach einer Vortragsreise nach Topeka, Kansas, wird er über sein bösartiges Blasenkarzinom unterrichtet. Zu Jahresende verstirbt seine Frau Hilde.


Am 4. Mai 1950 erschießt sich Paul Federn in seinem New Yorker Arbeitszimmer.

Ernst Kris

Ernst Kris wird am 26. April 1900 in eine jüdische Wiener Bürgerfamilie geboren, in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie konvertiert er vom Judentum zum Katholizismus. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie und Psychologie beginnt der promovierte Kunsthistoriker als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Museum Wien. 1924 wird er über Vermittlung seiner Verlobten Marianne Rie, angehende Kinderärztin und spätere Psychoanalytikerin, Sigmund Freud als Antiken-Experte vorgestellt. Außerdem beginnt er seine Lehranalyse bei Helene Deutsch. 1929 katalogisiert er die Sammlung für Gemmen und Kameen am Metropolitan Museum of Art in New York. 1933 wird er ordentliches Mitglied der WPV. Mit seinem ehemaligen Studienkollegen Ernst H. Gombrich arbeitet er an einem – unveröffentlicht gebliebenen – Projekt zur Karikatur. Gemeinsam kuratieren sie 1936 in der Wiener Albertina eine international beachtete Ausstellung mit Werken des französischen Künstlers Honoré Daumier.


Um der nationalsozialistischen Verfolgung als »Volljude« zu entgehen, sucht Kris am 21. März 1938 um Versetzung in den Ruhestand und Empfehlung einer Ausreisebewilligung für sich und seine Familie bei seinem Vorgesetzten Fritz Dworschak, seit dem »Anschluss« kommissarischer Leiter des Kunsthistorischen
Museums, an – mit Erfolg. Am 15. Mai 1938 kann Kris mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Anna (7 Jahre) und Anton (3 Jahre) nach London ausreisen, wo er für die BBC arbeitet. Am 29. Juli 1940 kommen sie auf dem Dampfer Duchess of Bedford in Kanada an – von dort aus ist die Einreise in die Vereinigten Staaten einfacher. Am
15. September 1940 betritt die Familie in New York amerikanischen Boden, im Besitz gültiger, von ihrer Freundin und Kollegin Ruth Mack Brunswick bereits 1938 besorgter Visa. Kris erwartet eine Stelle als Gastprofessor an der New School for Social Research in New York. Als Nicht-Mediziner wird er 1943 Ehrenmitglied der New York Psychoanalytic Society; die Vollmitgliedschaft bleibt ihm verwehrt. 1945 angestellte Überlegungen, in seine Wahlheimat England zurückzukehren, werden schließlich verworfen. »It is very hard to emigrate a second time«, so Anna Freud in einem Brief vom 16. Juli 1945 an ihren Freund Kris.


1950 gründet Ernst Kris die Postgraduate Study Group der New York Psychoanalytic Society, die er bis zu seinem Tod am 27. Februar 1957 leitet.

Brief von Ernst Kris aus London an Fritz Dworschak vom 7. November 1938. Darin schickt er Dworschak der seit dem „Anschluss“ kommissarischer Leiter des Kunsthistorischen Museums war, „und den Wiener Kollegen die ergebensten Grüße“ Weiter: „Die obige Anschrift wird wohl für die nächsten 3 Monate gelten. / Ich lege meine Beamtenlegitimation bei.“ Dworschak hatte sich bei der Polizeidirektion Wien und dem Unterrichtsministerium wohlwollend für dessen Bestrebungen, nach England auszureisen, eingesetzt.

KHM-Museumsverband