In London, wo „melanesisch“ geschrieben wird

Im Mai 1938 richtet Großbritannien eine Visumspflicht für »reichsdeutsche« Staatsbürger:innen ein, um die Einwanderung einzudämmen. Die meisten Österreicher:innen betreten britischen Boden als Transitflüchtlinge und somit nur mit der Erlaubnis zum befristeten Aufenthalt; auch von den Wiener Psychoanalytiker:innen schaffen es nur wenige, dauerhaft in London bzw. Großbritannien zu bleiben. Die Ehepaare Bibring, Hartmann, Isakower, Kris und Wälder emigrieren allesamt nach kurzer Zeit in die USA.

Die ersten Jahre im Londoner Exil sind für die Wiener:innen – allen voran für Anna Freud, die ihren in Wien innegehabten Status als unangefochtene Autorität verliert – voller Spannungen. Die Zusammenarbeit mit der britischen Vereinigung ist durch heftige Konflikte gezeichnet: Die beträchtlichen Auffassungsunterschiede zwischen der britischen und kontinentalen Psychoanalyse erleben die Wiener Analytiker:innen auch als Verlust ihrer ideellen Heimat. »Man hat gesagt, die englischen Kollegen schreiben nicht englisch, sondern ›melanesisch‹, man wollte damit ausdrücken, dass Melanie Klein dort als die größte Analytikerin und die Vollenderin des Werkes Freuds angesehen wird«, so WPV-Mitglied Otto Fenichel bereits 1934.

„Sie fragen nach unserer Zusammenarbeit mit der englischen Gruppe. … Soweit es die Klein’sche Schule betrifft, sind die Unterschiede so groß, dass man sich zwar über die Unterschiede unterhalten, aber nicht wirklich zusammenarbeiten kann. Das gibt im Einzelnen sehr viele Schwierigkeiten, die dadurch zugedeckt sind, dass die Gruppe sich menschlich der ganzen Emigrationsfrage besonders gut benommen hat.“

Anna Freud an Ernst Simmel, 1939

Willi Hoffer

Willi Hoffer wird am 12. September 1897 in Luditz/ Žlutice bei Karlsbad/Karlovy Vary im heutigen Tschechien geboren. Er studiert in Wien, wird Mitglied der zionistischen Jugendbewegung, und promoviert 1922 in Pädagogik und 1929 in Medizin. Ab 1923 Mitglied der WPV mit Arbeitsschwerpunkt Kinderanalyse und Pädagogik, ist er ein enger Freund und Mitarbeiter von Anna Freud und August Aichhorn.


Am 16. Mai 1938 reisen Hoffer und seine Frau Hedwig Hoffer-Schaxel nach London aus, wo sie von der British Psychoanalytical Society (BPS) als Mitglieder aufgenommen und als Lehranalytiker:innen anerkannt werden. Hoffer ist eines der aktivsten Mitglieder der Wiener Gruppe in London. Er unterstützt Anna Freud in ihren Auseinandersetzungen mit der Gruppe um Melanie Klein. Nach dem Erhalt der medizinischen Lizenz 1943 arbeitet er als Arzt in den von Anna Freud geleiteten Hampstead War Nurseries, deren Wirken er auch als Fotograf dokumentiert, und später auch in der Hampstead Clinic.


Neben Anna Freud und Edward Glover zählt er zu den Londoner Vertreter:innen des Herausgeber:innengremiums der (seit 1945 erscheinenden) Zeitschrift The Psychoanalytic Study of the Child, einem der zentralen Medien der Nachkriegsanalyse. Die anglo-amerikanische Unternehmung wird mit dem Bestreben gegründet, die Kinder- und Jugendlichenanalyse zu stärken und, auf dem theoretischen und praktischen Vermächtnis der Vorkriegsanalyse aufbauend, ihren Autor:innen und Leser:innen das Gefühl der Kontinuität und der Verbindung mit einer Community zu vermitteln. Auch wird er von Anna Freud, gemeinsam mit dem bereits in New York angekommenen Otto Isakower, ins Herausgeber:innenkomitee von Sigmund Freuds Gesammelten Werken im S. Fischer Verlag kooptiert.


Nach dem Krieg spielt Hoffer eine zentrale Rolle für die Wiederbelebung der Psychoanalyse in Europa. Reisend unterstützt Hoffer als Diplomat im Dienste der Psychoanalyse ganz wesentlich den Aufbau der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) in Deutschland und die Wiederbelebung der WPV. Er schafft die Grundlage für die Europäische Psychoanalytische Föderation (EPF) und betreibt die Wiedereinsetzung von Deutsch als offizieller Sprache der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV).


Am 25. Oktober 1970 stirbt Willi Hoffer in London.

Etiketten aus dem Haushalt von Willi Hoffer

Die in dieser Ausstellungsansicht gezeigten Etiketten von Wein- und Spirituosenflaschen – Zeugnisse geselliger Zusammenkünfte – bewahrte Willi Hoffer in seinem Landhaus Anchorlea in Walberswick, Suffolk auf. 1949 kaufte er die Immobilie vermutlich über Vermittlung von Anna Freud, die seit 1946 gemeinsam mit Dorothy Burlingham das Nachbarhaus besaß. Nach Hoffers Tod ging das Haus in den Besitz von Anna Freuds Neffen W. Ernest Freud über. Die Etiketten sind eine Leihgabe von Esther Freud.