Psychoanalyse in Wien nach dem „Anschluss“

Nach dem »Anschluss« ist die Entwicklung der Wiener Psychoanalyse eng mit der Geschichte der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), die seit 1933 einen Prozess der »Arisierung« durchläuft, verknüpft. 1936 wird die DPG in das »Deutsche Institut für Psychologie und Psychotherapie e.V.« unter dem Vorsitz von Matthias H. Göring, einem Vetter von Hermann Göring, eingegliedert. Im März 1938 wird die »Arbeitsgemeinschaft Wien des Deutschen Instituts« gegründet. Geleitet wird sie von dem Wiener Psychotherapeuten und NSDAP-Mitglied Heinrich von Kogerer, einem entschiedenen Gegner der Psychoanalyse. Zu einem echten Austausch innerhalb der Arbeitsgruppe kommt es kaum.


Zunächst völlig unabhängig von der Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Instituts leitet August Aichhorn ab dem Winter 1938/39 ein Seminar, in dem er in seiner Wohnung eine kleine Gruppe von Hörer:innen in psychoanalytischer Theorie und Praxis unterrichtet. Drei der fünf Teilnehmer:innen dieses ersten, illegalen Seminars – Ella Lingens, Kurt Lingens und Karl Motesiczky – werden im Oktober 1942 von der Gestapo verhaftet, da sie zwei jüdischen Ehepaaren bei der Flucht helfen. Karl Motesiczky verstirbt am 25. Juni 1943 in Auschwitz an Typhus.


Ab Herbst 1941 wird das Seminar vom Deutschen Institut anerkannt, einige Mitglieder der Wiener Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Instituts stoßen nun dazu. Auch nach der offiziellen Anerkennung bleibt es Aichhorns Ziel, Psychoanalyse in Theorie und Praxis unverfälscht zu vermitteln.

„An die Märztage 38 … vor dem deutschen Einmarsch … am Freitag erinnere ich mich noch sehr genau; als ich am Heimwege in der Währingerstraße den johlenden Horden ausweichen musste, ahnte ich noch nicht, was Schreckliches kommen wird.“

August Aichhorn, 1946

Welche psychoanalytischen Begriffe waren im Dritten Reich erlaubt, welche anstößig? Das von Aichhorn verfasste Manuskript Kategorien der Verwahrlosung wird von Werner Kemper, Leiter des Ambulatoriums des „Deutschen Instituts“, auf „erlaubte“ Begriffe untersucht – Kemper möchte z.B. „anale Phase“ durch „Trotzphase“ ersetzen, bei manchen Begriffen wie „Ödipuskomplex“ ist auf Latein „cave!“ [Hüte dich!] als Ausdruck kategorischer Ablehnung vermerkt.

Archiv Thomas Aichhorn, Wien

August Aichhorn

August Aichhorn wird am 27. Juli 1878 in Wien geboren. Nach der Ausbildung zum Lehrer arbeitet er in Pflicht- und Berufsschulen. 1907 gründet er – als Reaktion auf die in Wien entstehenden militärischen Einrichtungen – einen Knabenhort: Aichhorn möchte die Jugendlichen staatsbürgerlich, nicht vaterländisch erziehen. 1914 wird ihm der Titel »Kaiserlicher Rat« verliehen. 1919 erhält er von der Gemeinde Wien den Auftrag, in Hollabrunn (50 km nördlich von Wien) eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder und Jugendliche einzurichten.


Über Willi Hoffer wird Anna Freud auf Aichhorn aufmerksam, der schließlich eine Lehranalyse bei Paul Federn beginnt und 1922 Mitglied der WPV wird. Ab 1924 hält er Kurse für Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen am Ambulatorium der WPV, ab 1925 arbeitet er in seiner privaten Praxis mit Erwachsenen und Jugendlichen sowie als Lehr- und Kontrollanalytiker. Er unterrichtet an Dorothy Burlinghams Hietzinger Schule und zählt gemeinsam mit seinen engen Kolleg:innen Anna Freud und Siegfried Bernfeld zu den Vortragenden des 1933/34 von der WPV eingeführten Pädagogischen Lehrganges. Bereits 1925 erscheint sein Hauptwerk: Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Für die Entwicklung der Psychoanalyse – bislang eine Behandlungsform für triebgehemmte Menschen – stellt Aichhorns Expertise mit triebenthemmten und aggressiven Menschen eine wertvolle Bereicherung dar.


Am 11. März 1938 wird Aichhorns älterer Sohn August jun., Angestellter der Vaterländischen Front, bei einem Fluchtversuch verhaftet und im Mai 1938 ins KZ Dachau überstellt. Auch nach seiner Entlassung im September 1938 steht August Aichhorn jun. unter der Kontrolle der Gestapo. Aichhorns Entscheidung, in Wien zu bleiben und an der »Arbeitsgemeinschaft Wien des Deutschen Instituts« mitzuwirken, hat maßgeblich mit dem Schicksal seines Sohnes zu tun. Von hier aus, so seine Hoffnung, könne er ihn am besten unterstützen.


In den Kriegsjahren besucht Aichhorn regelmäßig seine ungarischen Kolleg:innen in Budapest – eine Art Ersatzheimat für ihn. Wenn auch unter großen Schwierigkeiten, können jüdische Analytiker:innen in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung arbeiten.


1946 eröffnet August Aichhorn die WPV wieder. Zu Jahresbeginn 1948 kommt es in Lausanne zu einem Wiedersehen mit Anna Freud.

Am 13. Oktober 1949 stirbt August Aichhorn in seiner Wohnung in der Rathausstraße 20 in Wien.

Brief von August Aichhorn an Heinz Kohut vom 23. Juli 1939, auf Briefpapier eines Budapester Hotels. „Mein lieber Heinz! / Nach langer Pause wieder ein Lebenszeichen von mir. […]/ Aus London bin ich seit einiger Zeit ohne Nachricht. Wissen Sie mehr von Dr. Hoffer? […] / Die Zukunft sehe ich für uns alle nicht so ganz grau. / Schreiben Sie bald. / Herzlichst / A. Aichhorn. / Adresse nicht vergessen!“

Heinz Kohut Papers, Library of Congress, Washington D.C.

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