Razzien in der Berggasse

Drei Tage nach Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich durchsucht am 15. März 1938 ein SA-Trupp die Berggasse 19. Zwei Tage später trifft Prinzessin Marie Bonaparte aus Paris ein, um der Familie Freud organisatorischen, diplomatischen und finanziellen Beistand zu leisten. Am 22. März 1938 findet eine Razzia der Gestapo in Freuds Räumlichkeiten statt. Anna Freud wird verhaftet und in die Gestapo-Leitstelle im früheren Hotel Metropol am Morzinplatz gebracht; erst nach stundenlangem Verhör kehrt sie abends zurück.
Der «Fall Freud» wird auf höchster diplomatischer Ebene verhandelt. William C. Bullitt – amerikanischer Botschafter in Frankreich, ehemaliger Patient und Co-Autor Sigmund Freuds sowie ein Freund von Präsident Franklin D. Roosevelt – sendet den amerikanischen Generalkonsul John Wiley nach Wien. Dieser soll vor Ort die sichere Ausreise der Freuds in die Wege leiten. Dass die Aufnahme der Freuds in England gesichert ist, steht dank des Engagements des britischen Psychoanalytikers Ernest Jones Ende März 1938 fest.

Warten auf die Ausreise

Für die Ausreise müssen formale Hürden wie die Entrichtung der „Reichsfluchtsteuer“ gemeistert werden. Ursprünglich 1931 mit dem Zweck eingeführt, Kapitalflucht zu vermeiden, wird diese Steuer von den Nationalsozialisten als Instrument zur Enteignung eingesetzt. Um sich vom Warten auf die Ausreisegenehmigung abzulenken, arbeitet Freud an seiner ersten gemeinsamen Publikation mit Anna: Sie übersetzen Marie Bonapartes Buch über ihren Hund Topsy. Freud, von der Ambivalenzlosigkeit des Hundes fasziniert, ist seit 1928 und bis zu seinem Lebensende selbst Chow-Chow-Besitzer. Außerdem ordnet er seine Antiken- und Büchersammlung. Von knapp 4.500 Bänden scheidet er ein Drittel aus. Im April wächst die Büchersammlung um ein Exemplar des französischen Autors Pierre Jean Jouve, der Freud in seiner Widmung einen „gerechten Mann in der Dunkelheit“ heißt.

Freud selbst überreicht am Tag der Ausreise ein letztes Widmungsexemplar seinem Anwalt Alfred Indra „in Dank u Freundschaft“, und stellt noch ein Zeugnis für seinen Privatchauffeur Josef Malina aus

Alltag im Exil

Am 4. Juni 1938 können Sigmund, Martha und Anna Freud Wien mit dem Orientexpress verlassen. Nach kurzem Aufenthalt in Paris erreichen sie am 6. Juni London. Zunächst sind sie in der Elsworthy Road im wohlhabenden Wohnviertel Hampstead untergebracht, wo Freud mit dem Besuch von drei Vertretern der Royal Society große Ehre zuteilwird. Im September 1938 wird ihm von seinem eingeflogenen Wiener Arzt Hans Pichler ein Tumor operativ entfernt – Freuds letzte Operation. Nach der Rückkehr aus der London Clinic zieht er in das mittlerweile von seinem Sohn Ernst umgebaute Haus 20 Maresfield Gardens, von der Familie auch als «Londoner Berggasse» bezeichnet.
Hier beendet er seine Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion, wohingegen seine letzte Schrift – Abriss der Psychoanalyse – unvollendet bleibt. Zu Besuch empfängt er u. a. Salvador Dalí, Arnold Zweig oder Virginia und Leonard Woolf und noch vier reguläre Analysand:innen sowie Dorothy Burlingham für ihre Lehranalyse.

Abschied von Sigmund Freud

«Auflösung d Praxis –», so lautet Freuds Tagebuch-Eintrag vom 1. August 1939, nach einem Anfall von Herzasthma. Sein Appetit verschwindet, die Schmerzen nehmen zu. Im September verschlechtert sich sein Gesundheitszustand rapide. Freud bezieht das Krankenlager in seinem Arbeitszimmer, mit Ausblick auf die Rosen im Garten.
Nach einer Morphium-Injektion fällt Freud ins Koma und stirbt am frühen Morgen des 23. September 1939. «Er war bis zuletzt, in den wenigen Stunden, zuletzt Minuten des Tages, in denen ihn nicht Schlaf oder Schmerzen entführten, ganz er selbst», schreibt seine Schwiegertochter Lucie in einem Brief über Freuds letzte Tage.
Die Einäscherung und Bestattung finden am 26. September im Golders Green Krematorium statt. Ernest Jones liest eine Trauerrede auf Englisch, anschließend spricht Stefan Zweig: «Jeder von uns dächte, urteilte, fühlte enger, unfreier, ungerechter ohne sein uns Vorausdenken, ohne jenen mächtigen Antrieb nach innen, den er uns gegeben.» (Stefan Zweig, 1939)

Ein Buch mit fünf Blättern

«Wir sind wie ein Buch. Alexander und ich sind die Deckel, Anna, Rosa, Mitzi, Pauli, Dolfi sind die fünf Blätter», sagt der 11-jährige Freud über seine Geschwister. Unüblicher Weise erhalten auch die Töchter eine Ausbildung: Anna ist eine der ersten jüdischen Lehrerinnen Wiens, Rosa Direktorin einer Privatlehranstalt für Kunststickerei, Marie («Mitzi») erlernt Buchhaltung, Pauline («Pauli») ist ebenfalls Kunststickerin, Adolfine («Dolfi») übernimmt die Betreuung der Eltern. Alexander erlangt als Eisenbahnexperte und Herausgeber des Allgemeinen Tarif- Anzeigers den Titel «Kaiserlicher Rat».
Über Jahre ist er dem älteren Bruder ein geschätzter Reisebegleiter. Die Briefe der Geschwister zeugen von Innigkeit ebenso wie von Distanziertheit: Rosa, die bis 1908 in der Berggasse 19 wohnt, und Dolfi bezeichnet Freud als seine Lieblingsschwestern. Als Anna in die USA und Marie nach Berlin ziehen, empfindet er dagegen Erleichterung. Pauline erwähnt Freud seltener und wenn, dann als die Tante seiner Kinder.

Ermordung der Schwestern

Ihrer grundlegenden Rechte beraubt, finanziellen Repressalien und körperlichen Gefahren ausgesetzt, versuchen tausende jüdische Österreicherinnen und Österreicher Ende der 1930er Jahre das Land zu verlassen. Sigmund und Alexander Freud können mit ihren Familien emigrieren, die hochbetagten Schwestern Adolfine, Marie, Pauline und Rosa bleiben in Wien zurück. Das Geld, das sie von der Familie zu ihrer Absicherung erhalten, ist durch die immer neuen Steuern und Gebühren der Nazis schnell aufgebraucht. Aus ihren Wohnungen vertrieben, sind sie gezwungen in «Sammelwohnungen » und schließlich in ein jüdisches Altenheim zu ziehen.
Im Sommer 1942 werden die Schwestern mit einem sogenannten «Altentransport» nach Theresienstadt deportiert, wo Adolfine am 29. September stirbt. Maries, Paulines und Rosas Transporte nach Treblinka am 23. bzw. 29. September enden wenige Stunden nach ihrer Ankunft mit deren Ermordung. Der Rest der Familie erfährt von ihrem Schicksal erst durch einen Brief des Roten Kreuzes im Jahr 1946.