Wenn es dunkel wird

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Berggasse 19, IX. Wien

An jenem Tag, an dem wir über die Terrorattacken der palästinensischen Hamas auf Israel erfahren haben, ist unsere Welt noch einmal dunkler geworden. Fassungslos gedenken wir seither der Opfer dieser schrecklichen Ausschreitungen. Die allseits präsenten Bilddokumente von Toten, Verbrannten und Geschändeten werfen auch gleißende Erinnerungsblitze auf unser historisches Versagen in Österreich vor 85 Jahren. Angesichts des aktuell eruptierenden Antisemitismus in Europa drängt - kaum ist der Slogan "Nie wieder!" gegen Shoah und Krieg verklungen - eine verborgene, bislang vielleicht verdrängte Angst vor Wiederholung an die Oberfläche unseres kollektiven Bewusstseins. Zudem verfestigt sich mit jedem Tag die Erkenntnis, dass der Gewaltspirale, die sich seit geraumer Zeit in vielen Nationen Bahn bricht, kaum Einhalt zu gebieten ist. Die Ideale unserer Zivilgesellschaften, die noch bis vor zwei Jahrzehnten durch globale Friedensbewegungen genährt, gestärkt und geeint wurden, schwinden.

Sehen wir die Grundfeste unserer Zuversicht zerstört, dann schrumpfen auch unsere sozialen Denk- und Handlungsräume: sie mutieren zu engen Gefängniszellen, die uns isolieren und jeglicher Perspektive berauben. So vollzieht sich auch der Wandel vom Zustand der Trauer zur Melancholie. Laut Freud zählt ersterer zu den allgemeinen Lebenserfahrungen, der „melancholische Komplex“ aber ziehe alle Lebensenergie an sich und „verhält sich wie eine offene Wunde“[1], die nicht verheilt. Schlussendlich unterliege das eigene Ich dem fortwährenden innerpsychischen Kampf und geht letztendlich verloren: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie das Ich selbst“.[2]

Freuds Hinweis, dass es sich nicht immer um den Verlust von Personen handeln müsse, sondern eventuell auch verlorene Bindungen an „Abstraktionen wie Vaterland, Freiheit und Ideal“[3] zum Krankheitsbild der Melancholie führen, verdeutlicht die Parallelen zwischen Einzel- und Gruppenschicksalen: so kann auch die Entwicklung einer Gemeinschaft nach überwältigenden Verlusterfahrungen über Phasen der permanenten Selbsterniedrigung in völliger Selbstaufgabe enden. 

In diesen Tagen fällt ein weiteres Symptom auf, das unsere gegenwärtige Situation und Befindlichkeit prägt und in der Psychoanalyse als Folge schwerer Traumatisierungen (oder Re-Traumatisierungen) besondere Aufmerksamkeit erfährt: die grassierende Verbreitung eines akuten Sprachverlusts. Dem absoluten Unvermögen sich einander mitzuteilen oder zuzuhören, ist eine verheerende Gefahr eingeschrieben: eine in sich verharrende, zur Passivität verdammte Katatonie, die jede Art der (Re-)Konstituierung verunmöglicht. Doch auch Gegenteiliges flutet unsere Kommunikationskanäle: Wortkaskaden vernichtender Schuldzuweisungen und zwanghafte, das eigene Dasein und festgefügte Denkhaltungen rechtfertigende Immunisierungsstrategien. Beide Abwehrmechanismen - das tosendes Schweigen und eine der "babylonischen Sprachverwirrung" verwandte, alles verunklärende Beredsamkeit - scheinen derselben Ursache geschuldet, dem Drang, die allseits präsente Macht- und Hilflosigkeit zu verdrängen.

Vor nunmehr hundert Jahren wurde Sigmund Freud vom damaligen Völkerbund, der heutigen UN, aufgefordert, sich mit Albert Einstein über die Frage "Gibt es einen Weg, die Menschen vom Verhängnis des Krieges zu befreien?" auszutauschen. In seinen sozialpolitischen Überlegungen bestätigt der Psychoanalytiker die pazifistischen Argumentationen des Physikers und plädiert ebenfalls für die Implementierung einer international wirkenden Ordnungsmacht, wie vom Völkerbund intendiert. Es sei der Versuch, schreibt Freud, "die Autorität, […] die sonst auf dem Besitz der Macht ruht, durch die Berufung auf bestimmte ideelle Einstellungen zu erwerben".[4] Damit stellt Freud hoffnungsvoll in Aussicht, dass der Zusammenhalt einer Gemeinschaft neben dem Einsatz von Gewalt auch noch durch eine weitere Maßnahme erreicht werden könne - durch die Stärkung der Gefühlsbindungen unter den Mitgliedern, durch Identifizierung. Eine solch gewaltfreie ideelle Verbindung setze allerdings voraus, dass sie den "wichtigen Gemeinsamkeiten der Mitglieder Ausdruck" gebe.

Dementsprechend und im Sinne Freuds, der meinte, dass alles was die Kulturentwicklung befördere (manche hießen es Zivilisation), gegen den Krieg arbeite[5], steht auch die wechselseitige Bedingtheit von Individuum und Gesellschaft im Fokus der Aktivitäten des Sigmund Freud Museums.[6] Dabei liefert uns das Format des psychoanalytischen Dialogs - "die Form, wie Worte berühren können, aber auch die Produktivität eines Gesprächs, das nicht nur vorher Überlegtes reproduziert, sondern auch produktiv ist"[7] eine wertvolle Orientierung. Als museale Bildungseinrichtung und als Kommunikationsplattform, die dem Kulturerbe Freuds verpflichtet ist, gilt es festzustellen, ob und welche Gemeinsamkeiten unterschiedlichen Positionen eingeschrieben sind, um den Wissensstand von- und übereinander zu erweitern und den Symptomen unserer Zeit auf den Grund zu gehen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich weder die Disziplin der Psychoanalyse noch das Museum an ihrem Ursprungsort dazu eignet "anderen das Wort zu verbieten. Im Gegenteil, sie ist auf nichts neugieriger als auf das Wort der anderen“[8].

 

Monika Pessler
Direktorin

Sigmund Freud Museum
Wien, Okt./Nov. 2023

 

 

[1] Sigmund Freud, "Trauer und Melancholie" [1915], in: Sigmund Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Fischer Verlag (5. Aufl.), 2009, S. 183.

[2] Ebenda, S. 176.

[3] Sigmund Freud, "Trauer und Melancholie" [1915], In: Sigmund Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Fischer Verlag (5. Aufl.), 2009, S. 173f.

[4] Albert Einstein und Sigmund Freud, in: Warum Krieg, Internationales Institut für Geistige Zusammenarbeit, Völkerbund, 1933, S. 12.

[5] Ebenda. S 61f.

[6] Siehe dazu den Artikel FREI SPRECHEN zum Leitgedanken, der die Programmierung des Sigmund Freud Museums in den Jahren 2020 bis 2025 begleitet: https://www.freud-museum.at/de/blogbeitraege-details/articles/frei-sprechen

[7] Joachim Küchenhoff, "Das analytische Gespräch auf der Suche nach dem Sinn", in: Der Sinn im Nein und die Gabe des Gesprächs. Psychoanalytisches Verstehen zwischen Philosophie und Klinik. Verlbrück Wissenschaft, Weilerswist 2013, S. 88.

[8] Dirk Baecker, Schlüsselwerke der Systemtheorie (2. Aufl.). Springer Verlag, 2016, S. 7.