Laudatio anlässlich der Verleihung des Museumspreises 2023 an das Sigmund Freud Museum Wien
von Robert Pfaller
Gehalten im Jüdischen Museum Hohenems, 12. 10. 2023
Geschätzte Ausgezeichnete, Herr Direktor Loewy, sehr geehrte Damen und Herren,
„Hüten Sie sich davor, etwas zu verstehen!“ – mit dieser brüsken, aber einprägsamen Formulierung hat der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan vor genau 70 Jahren seinen Schülern die grundlegende Regel Sigmund Freuds nahegebracht.[1]
Diese Regel besagt:
- niemals versuchen, das von Analysanden Gesagte oder Gezeigte zu komplettieren;
- die Leerstellen des Vorgebrachten nicht übertünchen zugunsten irgendeiner Fülle;
- nichts durch ungezügelte Einbildungskraft zur vermeintlichen Vollständigkeit ergänzen.
Genau das, sehr geehrte Damen und Herren, sind auch die Prinzipien der Neugestaltung des Sigmund Freud Museums. In radikaler und konsequenter Weise hat man sich hier an die Regel gehalten:
- nichts vorzuspiegeln, was nicht da ist;
- Leere nicht zu übertünchen; und damit
- die durch gewaltsame Vertreibung verursachte Abwesenheit Freuds als solche wahrnehmbar zu halten – und nicht etwa so zu tun, als hätten er oder seine Angehörigen Wohnung und Praxis erst vor wenigen Minuten verlassen.
„Nicht mehr scheinen, als wir sind“, so hat Frau Direktorin Monika Pessler dies prägnant zusammengefasst. Das ist gerade für ein Museum, das ja seinen Besuchern etwas bieten und vorzeigen soll, eine äußerst ungewöhnliche und mutige Entscheidung.
Das Team des Sigmund Freud Museums, die Wissenschaftlerinnen, Architekten, Restauratorinnen, Gestalter, haben sich entschlossen, das Fehlen entscheidender Exponate, das für jedes Museum so immens bedauerlich sein muss, nicht durch naheliegende Mittel wie Fotos oder gar sogenannte immersive Medien wie Film, Sound, Video oder gar virtuelle Realität zu kompensieren, um der Phantasie der Besucher auf die Sprünge zu helfen.
Nun aber hat die Psychoanalyse seit ihren Anfängen gelehrt, dass auch ein Fehlen, zum Beispiel von Worten, etwas sagt; ja, dass sogar die vermeintlichen Lücken des Traumes nicht notwendigerweise Lücken seiner Darstellung, sondern oft im Gegenteil Darstellungen von Lücken –– wie Freud in Bezug auf einen speziellen Traum meinte: etwa von Leibesöffnungen – sein könnten und als solche gewürdigt werden sollten.[2]
Indem das Team des Sigmund Freud Museums nichts übertüncht, sondern im Gegenteil frühere Veranschaulichungen entfernt hat, ist es in oft überraschender Weise gelungen, gerade den aufgefundenen Lücken dasjenige abzugewinnen, was sie als Darstellungen lesbar macht; und aus der Leere und dem Fehlen eine mitunter berührende Präsenz spürbar werden zu lassen.
Lassen Sie mich dies an drei exemplarischen Fällen erläutern.
Da gibt es zum Beispiel jene Wand des Behandlungszimmers, vor der, wie Sie alle wissen, leider die berühmte Couch fehlt, die heute in London steht. Indem man nun von dieser leeren Wand diverse Schichten von Malerei abtrug, mit der sie über die Jahre versehen worden war, tauchten auf einmal die Löcher jener Schrauben wieder auf, mit denen jener Teppich befestigt gewesen sein muss, der hinter Freuds Couch hing.
An diesen vielleicht von Freud selbst einst gebohrten Löchern zur Befestigung des die Analysanden vor Kälte schützenden Teppichs; an diesen Lücken in der Wand, die wohl etwa aus dem Jahr 1906 stammen müssen, als Freud seine Praxis aus dem Erdgeschoss ins Mezzanin des Hauses verlegte, wird der Gründer der Psychoanalyse auf sehr lebhafte Weise spürbar – genauso freilich wie das schmerzliche und blamable Schicksal, das ihm und seiner neuen, unbequemen Wissenschaft an diesem Ort bereitet worden ist.
Bei der Neugestaltung des Museums hat man auch die Wände der Wohnräume Anna Freuds geöffnet. Und dabei kamen tatsächlich die noch vorhandenen Kabel jenes Haustelefons zum Vorschein, das Anna Freuds Wohnung mit der ihrer Lebensgefährtin Dorothy Burlingham verband, die ab 1929 mit ihren vier Kindern im zweiten Stock des Hauses wohnte. Mithilfe dieses Haustelefons konnte man einander vor der nahenden Gestapo warnen.
Und, um noch ein drittes Beispiel zu nennen: die Garderobe, die zu Freuds Warte- und Behandlungszimmer führte. Sie ist mit ihren originalen braunen Wandverkleidungen und Garderobehaken ja erhalten geblieben. Lediglich ein letzter Garderobehaken, am Ende des schmalen Raumes, ist verschwunden. Ein anderes Museum hätte dieses peinliche Fehlen vielleicht mit einem Duplikat behoben und dies wohl mit einem entsprechenden Hinweisschild aufrichtig zu erkennen gegeben.
Das Team des Freud Museums aber hat sich gefragt, warum dieser Haken entfernt worden sein könnte. Und es hat im angrenzenden Fenster eine Antwort gefunden: dort ist heute noch ein Sprung im Glas zu sehen, der einst beim Anschlagen an den letzten Garderobehaken entstanden sein muss.
Man spürt nun, dass da jemand gewesen sein muss, der, um das Fenster vor weiterem Schaden zu bewahren, entschieden hat, den Haken zu entfernen. Freilich lässt sich nicht sagen: War es Freud selbst? Oder war es vielleicht seine treue Hausangestellte Paula Fichtl?
Oder man könnte noch auf einen anderen Gedanken kommen: Vielleicht hing an diesem letzten Haken einer der bekannten weichen Filzhüte Freuds; und vielleicht war das Fenster darum so lange vor Beschädigung geschützt, bis Freud diesen Hut auf seine Flucht mitnahm.
Sehr geehrte Damen und Herren, an diesen Beispielen, die sich wohl noch durch manche weitere vermehren ließen, wollte ich zeigen: Es gibt wohl kaum ein Museum in der Welt, das in seinem Verfahren der Methode der von ihm dokumentierten Wissenschaft so nahekommt, wie das neu gestaltete Sigmund Freud Museum.
Es wird hier nichts „verstanden“ im Sinn Lacans; es wird nichts wohlmeinend ergänzt oder vervollständigt – und gerade das macht alles, was hier zu sehen ist, ebenso wie alles, was nicht zu sehen ist, auf so berührende Weise deutlich und lebendig.
Dafür möchte ich DANKE sagen und natürlich: Herzlichen Glückwunsch!
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[1] Siehe Jacques Lacan: Das Seminar, Buch I: Freuds technische Schriften. Weinheim, Berlin: Quadriga, 1990: 97f.
[2] Siehe Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 329: „Glossen über den Traum, anscheinend harmlose Bemerkungen zu demselben, dienen oft dazu, ein Stück des Geträumten in der raffiniertesten Weise zu verhüllen, während sie es doch eigentlich verraten. So z. B. wenn der Träumer äußert: Hier ist der Traum verwischt, und die Analyse eine infantile Reminiszenz an das Belauschen einer Person ergibt, die sich nach der Defäkation reinigt. Oder in einem anderen Falle, der ausführliche Mitteilung verdient: Ein junger Mann hat [...] einen Traum [...]: Er befindet sich abends in einem Sommerhotel, irrt sich in der Zimmernummer und kommt in einen Raum, in dem sich eine ältere Dame und ihre zwei Töchter entkleiden, um zu Bette zu gehen. Er setzt fort: Dann sind einige Lücken im Traum, da fehlt etwas, und am Ende war ein Mann im Zimmer, der mich hinauswerfen wollte, mit dem ich ringen mußte. Er bemüht sich vergebens, den Inhalt und die Absicht jener knabenhaften Phantasie zu erinnern, auf die der Traum offenbar anspielt. Aber man wird endlich aufmerksam, daß der gesuchte Inhalt durch die Äußerung über die undeutliche Stelle des Traumes bereits gegeben ist: Die 'Lücken' sind die Genitalöffnungen der zu Bette gehenden Frauen: 'da fehlt etwas' beschreibt den Hauptcharakter des weiblichen Genitales.“