Frei Sprechen

Haim Steinbach, AHA!, 1997

 

Monika Pessler, Direktorin

Die Aktivitäten des Sigmund Freud Museums werden in den Jahren 2021 - 2025 dem Leitmotiv FREI SPRECHEN folgen. Dem Doppelsinn dieses Themas sind zwei Aspekte eingeschrieben, die für den heutigen Diskurs ebenso relevant sind wie für die frühe Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse: Einerseits wird an Josef Breuers "kathartische Methode" erinnert, die der Psychoanalyse vorausging und ein SICH FREISPRECHEN ermöglichen sollte (weshalb die spätere Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim auch von "chimney-sweeping" sprach). Andererseits bildet die Aufforderung, FREI ZU SPRECHEN, die Grundlage und das Anliegen eines jeden psychotherapeutischen Dialogs. Ziel dieses einst von Freud gemeinsam mit seinen PatientInnen entwickelten Sprechverfahrens der "Talking Cure" war und ist es bis heute, die Ursachen jener Symptome und Handlungsweisen zu ergründen, die das individuelle ebenso wie das gesellschaftliche Dasein erschweren oder gar gefährden. Erst aufgrund eines kontinuierlichen Austauschs und einer tiefgreifenden Analyse können auf Basis der so gewonnenen Erkenntnisse bisher unbekannte Wege in der Bewältigung von Krisen eröffnet und beschritten werden.

Einen weiteren Grund, die Aufgaben, Projekte und Gesprächsreihen des Sigmund Freud Museums unter das Leitmotiv FREI SPRECHEN zu stellen, liefert die psychoanalytische Kulturtheorie. Freud widmete sich in zahlreichen Schriften[1] Themen, die auch unsere gegenwärtige(n) Gesellschaft(en) prägen: der Frage nach Identität und Freiheit, die heute aufgrund sozialer und ökonomischer Spaltungen immer brisanter wird, den Tendenzen zu Paranoia und Verleugnung, die in Zeiten der Corona-Pandemie verstärkt auftreten, ebenso wie religiös, rassistisch, sexistisch oder homophob motivierten Aggressionen und Abwehrmechanismen.

Längst etablierte Wertehaltungen - wie sie 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zum wiederholten Mal in der Abschlusserklärung der Internationalen Konferenz für Menschenrechte formuliert und 1993 von insgesamt 171 Staaten der Vereinten Nationen unterzeichnet wurden - verlieren scheinbar an Bedeutung. Entgegen der Lehren, die man einst aus der Geschichte zu ziehen vermeinte, wird neben der Herabwürdigung und Verletzung menschlicher Grundrechte im Zuge nationaler und/oder gesamteuropäischer Exklusionsmaßnahmen der Ruf nach autoritären Herrschaftssystemen immer lauter vernehmbar.

Im Versuch, konstruktive Antworten auf virulente Themen unserer Zeit zu finden, diese aufzubereiten und zu bearbeiten, erweist sich ein weiterer Faktor, der psychoanalytischen Kommunikationsstrategien seit jeher immanent ist, als hilfreich - ihre Inter- bzw. Transdisziplinarität. Seit ihren Anfängen war die Psychoanalyse als eine interdisziplinäre Unternehmung angelegt, Freud dazu: "Die Würdigung der Psychoanalyse würde unvollständig sein, wenn man versäumte mitzuteilen, daß sie als die einzige unter den medizinischen Disziplinen die breitesten Beziehungen zu den Geisteswissenschaften hat und im Begriffe ist, für Religions- und Kulturgeschichte, Mythologie und Literaturwissenschaft eine ähnliche Bedeutung zu gewinnen wie für die Psychiatrie".[2]

So wie sich andere Disziplinen psychoanalytischer Erklärungsmodelle bedienen, profitiert die Psychoanalyse bis heute von den Expertisen der unterschiedlichen Wissensgebiete und integriert Betrachtungsweisen und Annahmen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften in die eigene Forschungsagenda. Denken wir dabei nur an Freuds Verwendung der "archäologischen Metapher", deren „architektonische Dimension“ Freud auch zur „Repräsentationsform der psychischen Realität“, der Topografie des „psychischen Apparats“ verhalf.[3]

So verlangt der psychoanalytische Dialog in Theorie und Praxis nach einem kontinuierlichen Perspektivenwechsel, dem für das Gelingen der Wirklichkeitsrekonstruktion und ihrer Deutung unschätzbarer Wert beigemessen wird - wie nicht zuletzt das Phänomen der "Übertragung und Gegenübertragung" eindrucksvoll belegt.

Auch das korrelierende Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Psyche gründet aus psychoanalytischer Sicht vornehmlich auf einem Wechsel des Standpunkts, denn der "Gegensatz" von Individual- und Sozialpsychologie erscheine nur auf den ersten Blick bedeutsam, schreibt Freud schon 1921, und büße "bei eingehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe" ein, da "der andere" im "Seelenleben des Einzelnen […] ganz regelmäßig als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht kommt, und die Individualpsychologie […] daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne"[4] sei.

Dementsprechend finden sich psychoanalytische Konzepte auch früh in sozialwissenschaftlichen Analysen und Beschreibungen wieder – in der gesellschaftsreformatorischen Pädagogik der 1920er Jahre oder zeitgenössischen Kunstbewegungen wie dem Dadaismus und Surrealismus.

Den weiterführenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts mag Freud selbst Vorschub geleistet haben, indem er in seinem Spätwerk die Beziehung und Interaktion zwischen der AnalytikerIn und AnalysandIn als einen Prozess der "Transformation" beschrieb – eine Einschätzung, die jüngere Disziplinen der psychosozialen Wissenschaftsgeschichte ins Gedächtnis ruft.

Die methodische Dialogführung und ein durch sie eröffnetes sowie begleitetes Transformationsgeschehen avanciert in zahlreichen Disziplinen zu einem bevorzugten Verfahrensschritt: ab Mitte der 1940er Jahre etwa in der Gruppendynamik, für die Kurt Levin mit seiner experimentellen Sozialpsychologie schon in den 1930ern die Grundlagen schuf.

Ab den 1950er Jahren gelangt Ruth Cohn, Tochter einer in Deutschland assimilierten jüdischen Familie, die als Studentin 1941 aus der Schweiz in die USA emigrierte, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion[5]: "Ich wurde Psychoanalytikerin in einer Zeit, in der humane Werte einer 'Exklusivitätsphilosophie' zum Opfer fielen. Was daraus folgte, ist im Lauf der Geschichte immer wieder geschehen und geschieht heute noch.", schreibt Cohn im Vorwort ihrer Textsammlung erstmals 1975. Sie begegnet den von ihr beschriebenen, vergangenen wie damals aktuellen Entwicklungen mit einem erweiterten psychodynamischen Dialogverfahren, das ein ausgewogenes und "vertieftes Verstehen von Person, Gruppe und thematischer Aufgabe und ihrer wechselseitigen Beziehungen"[6] ins Zentrum rückt.

Ende der 1960er führen Überlegungen Gregory Batesons und Heinz von Foersters zu einer erweiterten Befragung selbst organisierter, biologischer und sozialer Systeme – womit sowohl das System Mensch als auch ein von Menschen belebtes System wie eine Organisation gemeint sein kann.[7]

Foerster stützt sich in seinen erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Untersuchungen unter anderem auf die Methode der Beobachtung und fordert zusätzlich zur herkömmlichen auch eine "Beobachtung zweiter Ordnung" ein: die Beobachtung der/des Beobachtenden. Da jede Sicht- und Erklärungsweise von den Erkennenden, ihren Erfahrungen und Vorurteilen abhängt, gründet das Verständnis des Kybernetikers und Konstruktivisten ebenso wie das der PsychoanalytikerInnen darauf, dass es die "objektive Wahrheit" nicht gibt. Doch im Dialog über das Beobachtete und die Beobachtenden können immerhin jene Faktoren zur Sprache gebracht werden, die den jeweiligen Einschätzungen und Analysen - der Konstruktion des Status quo - zugrunde liegen.

Dirk Baecker, Soziologe und Kulturtheoretiker, meint über die BeobachterInnen zweiter Ordnung, dass es in unserer Gesellschaft vor allem "Intellektuelle, Kritiker, Psychoanalytiker, heute zunehmend: Künstler," seien, "die sich darüber wundern, was die anderen für selbstverständlich halten […]"[8].

In den letzten Jahrzehnten zeitigen die kontinuierlich anwachsende Technologisierung und weltweite Globalisierung der Finanz- und Handelsmärkte immer komplexer werdende Arbeits- und Produktionsbedingungen, die auf die Strukturen ihrer Systeme nicht ohne Wirkung bleiben konnten. So wird ab den 1990er Jahren nicht nur im Bereich privater Lebensverhältnisse, sondern auch für betriebliche Systeme die Steigerung der Widerstandsfähigkeit ("Resilienz") vakant. Ebenso gilt es, im professionalisierten Management das "Wesen" betrieblicher Strukturen zu erforschen, deren Kommunikationsvermögen und Reaktionsfähigkeit ("Responsiveness") unter Beobachtung zu stellen und zu stärken.

Wird Foersters Kybernetik von Niklas Luhmann in Anlehnung an die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela noch einmal verschärft in Anschlag gebracht und Systeme als streng voneinander getrennte, allein durch ihre System/Umwelt-Differenz definierte Einheiten beschrieben – so behält FREI SPRECHEN im Sinne der Transdisziplinarität vor allem die Evidenz der wechselseitigen Bedingtheit von Individuum und Gesellschaft im Fokus.

Daher wird in der Wiener Berggasse 19 einmal mehr der Versuch unternommen, eine Verbindung zwischen der historischen und aktuellen Bedeutung dieses Ortes herzustellen und an jene Aspekte erinnert, die sich als „Geschichte im fruchtbaren Sinn“ (Bloch) erweisen.

Anstatt Symptome unserer Gesellschaft lediglich als "Anpassungsstörung" aufzufassen, wird ihnen "individuelles Wissen, gleichsam ein Charakter"[9] zugestanden und dem "Anderen" (Lacan) Gehör verschafft, um im sprachlichen Austausch eine sinnstiftende und gemeinsame Erzählung zu etablieren.

Im Format FREI SPRECHEN können ebenso jene Kriterien Berücksichtigung finden, die laut Joachim Küchenhoff den psychoanalytischen Dialog auszeichnen wie "die Form, wie Worte berühren können, aber auch die Produktivität eines Gesprächs, das nicht nur vorher überlegtes reproduziert, sondern auch produktiv ist".[10]

So wie für André Michels und Claus Dieter Roth die Bereitstellung eines solchen "Sprachraums" zur bedeutendsten Aufgabe der Psychoanalyse zählt, so maßgeblich ist sie in der Vermittlungsarbeit des Sigmund Freud Museums: auch hier prägt der Inhalt die Form - und vice versa.

Nicht als eine ausschließliche Gemeinschaft von PsychoanalytikerInnen, aber mit ihnen und mit anderen propagiert FREI SPRECHEN zudem jene "Mehransichtigkeit", wie sie in den Künsten zugunsten eines systemumfassenden Dialogs gepflegt wird. Denn was für die Systemtheorie zutrifft, gilt für die Psychoanalyse und für das Museum an ihrem Ursprungsort schon lange – sie "eignet sich nicht dazu, anderen das Wort zu verbieten. Im Gegenteil, sie ist auf nichts neugieriger als auf das Wort der anderen“[11].

 

Literatur:

[1] Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus (1914); Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921); Das Unbehagen in der Kultur (1930) oder sein Briefwechsel mit Albert Einstein Warum Krieg? (1933).

[2] Freud, Sigmund: ‚„Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“‘ [1923], in: Gesammelte Werke XIII. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 209-233, S. 212 u. 228.

[3] Stockreiter, Karl: „Am Rand der Aufklärungsmetapher. Korrespondenzen zwischen Archäologie und Psychoanalyse“, in: Lydia Marinelli / Sigmund Freud Museum (Hg.): „Meine alten und dreckigen Götter“ – Aus Sigmund Freuds Sammlung. Frankfurt a.M.: Stromfeld Verlag 1998, S. 81-93, S. 81 ff.

[4] Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, in: Studienausgabe Bd. IX., s. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1974.

[5] Ruth Cohn, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, (Erstaufl. 1975), Klett-Cotta, 2009.

[6] Ebenda.

[7] Vgl. Heinz von Foerster, "On Self-Organizing Systems and Their Environments", in: M. C. Yovits and S. Cameron (Hg.), Self-Organizing Systems, Pergamon Press, London 1960.
Heinz von Foerster, "On Constructing a Reality", in: F. E. Preiser (Hg.), Environmental Design Research, Vol. 2, Dowden, Hutchinson & Ross, Stroudberg 1973.

[8] Dirk Baecker, Form der Kultur, unter: https://www.spacetime-publishing.de/luhmann/FormDerKultur2003.pdf, S.7

[9] Moritz Senarclens de Grancy: Claus Dieter Rath, Der Rede Wert. Psychoanalyse als Kulturarbeit (Turia + Kant, Wien 2013), Rezension, in: Psyche – Z Psychoanal 69, 2015, 293-294.

[10] Joachim Küchenhoff, "Das analytische Gespräch auf der Suche nach dem Sinn", in: Der Sinn im Nein und die Gabe des Gesprächs. Psychoanalytisches Verstehen zwischen Philosophie und Klinik, Verlbrück Wissenschaft, Weilerswist 2013, S. 88.

[11] Dirk Baecker, Schlüsselwerke der Systemtheorie, (2. Aufl.) Springer Verlag, 2016, S.7.