Höchstes Unrecht

Es ist früher Montagmorgen im Sommer 2022 nach einem Wochenende, an dem die Fernsehnachrichten und sozialen Medien unablässig das Urteil des US-amerikanischen Höchstgerichts am Freitag zuvor wiedergekäut haben. Ich starte mein Zoom-Fenster, um die Sitzug mit einer einfühlsamen und leistungsorientierten Patientin zu beginnen. Sie ist in den Sechzigern und beginnt gleich damit, mir ihre Reaktionen und Assoziationen zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs mitzuteilen, das Recht auf Abtreibung zu streichen. Diese rechtliche Entscheidung verwirft fünfzig Jahre an Präzedenzfällen. Sie ebnet mindestens 24, möglicherweise mehr amerikanischen Staaten den Weg für die Abschaffung von reproduktiven Rechten.

Meine Patientin ist empört und voller Kummer. Ihre gewöhnlich melodische Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Früher einmal war sie katholische Nonne und gesellschaftlich progressiv. Sie verstand aufgrund ihrer Arbeit mit jungen Menschen, Minderheiten und Menschen mit geringem Einkommen, wie unverhältnismäßig und gewaltsam repressive Abtreibungsgesetze Frauen treffen können.

Sie kennt Sándor Ferenczis Aufsatz über das „unwillkommene Kind“ von 1929 nicht, ebenso wenig wie die Beziehungstheorien von Jessica Benjamin zu mütterlicher Subjektivität und Anerkennung oder die soziologische Forschung. Doch sie hat großes Mitgefühl mit anderen. Das ist keine Reaktionsbildung. Es kommt aus ihrem tiefsten Herzen. Auf einer persönlichen Ebene ist sie besorgt, wie der lange Arm der Regierung sich auf Körper und Familie ihrer Schwiegertochter auswirken wird. Sie kann die Unbedachtheit der Befürworter des neuen Urteils und ihre pervertierten religiösen Argumente zugunsten des Obersten Gerichts kaum fassen. „Wie können sie so dumm und kaltschnäuzig sein!“, sagt sie. Aus meiner Perspektive als ihr Analytiker sind ihre Reaktionen zusätzliche Beweise dafür, wie sehr Kultur und Gesellschaft die individuelle Subjektivität durchziehen.

Täglich stehen Frauen vor vielen komplexen Entscheidungen. In unserer modernen Welt können sie mit der Entscheidung konfrontiert sein, Krisenschwangerschaften abzubrechen, die sie nicht geplant haben, nicht wollten oder aus Gründen nicht austragen können, die von ihren Wünschen bis zu gesundheitlichen Bedenken reichen können. Diese Entscheidungen erhalten oft eine Dimension von Gewalt, wenn Abtreibungsgegner oder Regierungen die Menschenrechte mit Füßen treten. Der Zugang zu sicheren, legalen Abtreibungen ist ein Grundrecht. Internationale Menschenrechtsnormen und Verträge legen fest, dass es eine Form von Diskriminierung darstellt und eine Reihe von Gesundheitsrisiken birgt, Frauen, Mädchen und schwangeren Trans-Personen den Zugang zu Abtreibungen zu verweigern. Menschenrechtsausschüsse der Vereinten Nationen rufen Regierungen auf der ganzen Welt regelmäßig dazu auf, Abtreibung zu entkrimialsieren und zumindest in bestimmten Situationen den Zugang zu sicheren, legalen Abtreibungen zu gewährleisten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erwähnt die reproduktiven Rechte nicht per se, aber viele ihrer Absätze sind für diese grundlegend. Zum Beispiel Artikel 1 – das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person – untermauert angemessene Schwangerschaftsvor- und nachsorge, um die Mütter- und Kindersterblichkeit zu reduzieren, die Freiheit zu entscheiden, ob und wann (und mit wem) man Kinder hat, das Recht, ohne Angst vor sexueller (oder anderer) Gewalt zu leben, und das Recht, medizinische oder traditionelle Verfahren (z. B. Hysterektomie, weibliche Genitalverstümmelung) zu verweigern. Doch vielen Frauen dieser Welt, auch Frauen in einigen westlichen Industrienationen, mangelt es an reproduktiven Rechten oder sie haben nur beschränkten Zugang zu Aufklärung und medizinischen Diensten, die sie benötigen, um Entscheidungen zu treffen und so von den Rechten Gebrauch zu machen, die ihre Regierungen garantiert haben.

Die renommierte NGO Human Rights Watch hält fest, dass reproduktive Rechte Menschenrechte sind, auch das Recht auf Abtreibung. Die Pflicht, Frauen, Mädchen und anderen schwangeren Personen Zugang zu sicheren und legalen Abtreibungen zu bieten, ist Teil der grundlegenden menschenrechtlichen Verantwortung von Staaten. Wie Human Rights Watch in Sachverständigengutachten für oberste Gerichte in Ländern der ganzen Welt festgestellt hat, stützen internationale Menschenrechtsnormen und die entsprechende Rechtsprechung den Schluss, dass Entscheidungen über Abtreibung allein der schwangeren Person zukommen, ohne Einmischung oder unzumutbare Einschränkungen durch den Staat oder Dritte. Ihre Argumente wurden von Gerichten in vielen Ländern wie Brasilien, Kolumbien oder Südkorea und zuletzt von Partnerorganisationen in den Vereinigten Staaten zur Kenntnis genommen.

Während ich schreibe, hat das Parlament von Indonesien ein neues Strafrecht verabschiedet. Dieses neue Strafrecht verbietet allen Personen im Land außerehelichen Geschlechtsverkehr. Mit den neuen Gesetzen, die in drei Jahren in Kraft treten, wird Sex außerhalb der Ehe mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Menschenrechtsgruppen stellen fest, dass die neuen Bestimmungen sich überdurchschnittlich auf Frauen, LGBTQ-Personen und ethnische Minderheiten auswirken werden. Der immaterielle Schaden für Frauen ist riesig. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Abtreibungsentscheidungen im größten muslimischen Land der Welt von diesem Strafrecht beeinflusst werden. Selbstverständlich folgt daraus, dass alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und/oder sexueller Orientierung, einen gewissen Grad ihrer Freiheiten einbüßen werden.

Psychoanalytiker:innen und psychoanalytische Psychotherapeut:innen sind mit den Dilemmata der Entscheidung vertraut, eine Krisenschwangerschaft abzubrechen oder nicht. Sie ist eine der persönlichsten Entscheidung überhaupt. Die Entscheidung bezieht sich auf den Körper von Frauen und ist nicht leicht zu treffen. Sie involviert das Gefühls- und Privatleben von Menschen. Je nach Kultur und Gesellschaft der Frauen kann die Entscheidung höchst konfliktträchtig sein und Schuldbewusstsein und Scham auslösen. Natürlich müssen Kliniker:innen sich immer ihre eigenen Werte bewusst machen und selbstverständlich müssen sie für mögliche blinde Flecken aufgeschlossen sein. Aber ist die beste Art, Autonomie und Menschenrechte zu bewahren und Müttersterblichkeit und -morbidität zu reduzieren, wirklich umstritten? Meiner Meinung nach ist diese Moralität und Frauenfeindlichkeit zu hinterfragen.

Die Psychoanalyse hilft, sich seiner inneren Welt und ihrer Psychodynamik bewusst zu werden. Sie dreht sich um die Subjektivität im Kontext von Selbst und anderem. Mit anderen Worten, es geht um psychologische Befreiung. Menschenrechte fördern die Befreiung von der anderen Seite, der äußeren, realen Welt. Sie ergänzen die innere Befreiung. Daraus ergibt sich, dass es im reproduktiven Recht, auch dem Recht auf Abtreibungen, auch um Freiheit geht. Jeder Versuch, diese Freiheit zu demontieren, bedeutet höchstes Unrecht.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, Direktor und Clinical Professor an der New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis; Senior Research Fellow am Center for Byzantine and Modern Greek Studies, Queens College, City University of New York; Fellow der American Psychological Association und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (39) der American Psychological Association (APA), der Academy of Psychoanalysis des American Board of Professional Psychology (ABPP) und der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy (IARPP). Dr. Orfanos praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie sowie lehrt, supervidiert und publiziert international. 2016 war er Mitherausgeber der Sonderbeilage der Zeitschrift Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema „Psychoanalysis and the Humanities“. 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group (HRWG), die er gemeinsam mit Physicians for Human Rights und der NYU School of Law betreibt. HRWG bietet psychische Gesundheitsdienste für Asylbewerber:innen, Guantánamo-Häftlinge und afghanische Universitätsflüchtlinge und Studierende, die in Kabul festsitzen. Darüber hinaus arbeitet er an einer Reihe von psychoanalytischen Studien über den griechischen Komponisten und Aktivisten Mikis Theodorakis (1925-2021).