Gewalt 2023

Mit dem Jahresthema „Gewalt“, dem wir heute auf so vielen Ebenen begegnen, ob im schädigenden Missbrauch unseres Planeten, gegenüber Frauen, Minderheiten oder im Krieg, setzt das Sigmund Freud Museum jenen Dialog fort, den Freud einst mit der Psychoanalyse und ihren soziokulturellen Implikationen initiierte. Die hier auf unserer Homepage vorliegende digitale Auseinandersetzung ermöglicht die Erweiterung des analogen Kommunikationsbereichs des Museums, wo 2023 zu dieser Problematik auch eine Ausstellung und eine Konferenz stattfinden werden. Die nun folgenden Text- und Bildbeiträge wurden von den Mitgliedern unseres Wissenschaftsbeirats verfasst und stellen eine sinnstiftende und wertvolle Ergänzung unseres Jahresprogramms 2023 dar: In einer für die Psychoanalyse spezifischen (selbst)reflektierenden Weise geben Psychoanalytiker:innen, Philosoph:innen, Literaturtheoretiker:innen, Religionswissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen Einblicke in das vielschichtiges Kaleidoskop eines internationalen gesellschaftspolitischen Diskurses –  im Hinblick auf die persönlich ausgewählten inhaltlichen Schwerpunkte aber auch bezüglich ihrer geografischen Positionen. Für ihr Engagement und die Unterstützung dieser Projektidee danke ich sehr herzlich: Lisa Appignanesi aus England (King's College London); Oleksandr Filts aus der Ukraine (Nationale Medizinische Universität Lwiw); Rubén Gallo aus den USA (Princeton University); Gohar Homayounpour aus dem Iran (Shahid Beheshti University Teheran); Viktor Mazin aus Russland (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg); Spyros D. Orfanos aus den USA (New York University); Herman Westerink aus den Niederlanden (Radboud University Nijmegen) und unserer Beiratsvorsitzenden Jeanne Wolff-Bernstein aus Österreich (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse).


Wien, 1875: „Es ist wirklich sehr viel faul in diesem ‚Kerker‘, Erde genannt, was durch menschliche Einrichtungen zu bessern wäre in Erziehung, Güterverteilung, Form des Struggle for existance […]“, schreibt Sigmund Freud neunzehnjährig an seinen Freund Eduard Silberstein. In den folgenden Jahren wird sich der angehende Mediziner noch intensiver mit den Ideen „sozialistischer Bestrebungen“ beschäftigen, er wird Stuart Mills Artikel über „Frauenemanzipation“ und „Die Arbeiterfrage“ vom Englischen ins Deutsche übertragen[1] und in seinem Studium der Philosophie auf Franz Bretano treffen, der „die Methode der Naturwissenschaften auf die Philosophie und besonders auf die Psychologie überträgt“[2], wie der junge Freud begeistert feststellt, ganz im Vertrauen darauf, dass nur die Erkenntnisse der Wissenschaften einen unverstellten Blick auf die Welt erlauben und so auch der Politik eine Handhabe für die Organisation einer gerechten und freien Gesellschaft ermöglichen werden.[3]

Widmet er sich vorerst vor allem der Neurologie, so wird seine künftige Erforschung der menschlichen Seele von gesellschaftlichen Entwicklungs- und Fragestellungen nie ganz unberührt bleiben. Schon seinen Studien über Hysterie von 1895, in denen der sexuelle Missbrauch als Krankheitsursache vorausgesetzt wird, ist die Kritik an etablierten Geschlechterordnungen und damit der Hinweis auf soziale Missstände und (sexualisierte) Gewalt eingeschrieben.[4] Im selben Maß wie der Arzt die Konsequenzen äußerer Gewalteinwirkung auf die Psyche untersucht, rückt später auch das ihr inhärente Aggressionspotential in den Fokus seiner Ermittlungen. In Jenseits des Lustprinzips wird Freud seine Trieblehre, in der das „Realitätsprinzip“ der unumwundenen Durchsetzung des „Lustprinzips“ Einhalt zu gebieten versteht, um den „Todesstrieb“ (Thanatos) erweitern. Als Gegen- und Mitspieler des „Lebenstriebes“ (Eros) ist die Betätigung dieser innerpsychischen Kraft nicht allein von pathologischen Phänomenen ablesbar.[5] Wendet sich diese Triebkraft, die nach Stillstand und Auflösung strebt, allerdings gegen die Außenwelt, so mündet sie in Aggression und Zerstörung und wird von Sigmund Freud deshalb nicht nur als „Todes-“ sondern auch als „Destruktionstrieb“ bezeichnet.[6]

So häufig wie sich Freud auf die Geisteswissenschaften beruft, so vehement betont er den naturwissenschaftlichen Charakter der Psychoanalyse. Denn im Gegensatz zur Religion, die er als ernsthafte Bedrohung der Wissenschaft auffasst, zur Kunst, die kaum jemals „Übergriffe ins Reich der Realität“ wagt und zur Philosophie, die, obwohl sie sich „wie eine Wissenschaft gebärdet“, ihren Hang zum Intuitiven nicht abzustreiten vermag, ist es vor allem die Psychoanalyse, die „alles was Illusion ist, sorgfältig vom Wissen“ trennt[7], um einen ganzheitlichen Eindruck vom menschlichen Dasein gewinnen zu können.

Anders hält es Freud mit den Bereichen Soziologie und Recht, die als konstitutive wie konstruierende Faktoren der individuellen Existenz und Gesellschaft fundamentale Anschlussstellen für seine Theoriebildung bereitstellen. So führen die Fragen der Psychoanalyse in das Gebiet der Gesellschaftstheorie und bieten ihm über Jahrzehnte einen Anlass, sich als Soziologe zu versuchen.[8] „Kultur“ und „Zivilisation“ (Freud lehnt es ab, diese beiden Begriffe voneinander zu unterscheiden) erweisen sich in seinen Betrachtungen als die eigentlichen Instrumente gegen Gewalt und Krieg. Sie äußern sich in kulturellen Leistungen, die sinnstiftend zur Anwendung gebracht werden, um 1.) die Natur zu beherrschen, ihre Güter zu nutzen und um 2.) Strukturen sowie Institutionen zu etablieren, die das gesellschaftliche Miteinander und „besonders die Verteilung der erreichbaren Güter regeln.“

Als unabdingbar erweist sich für den Analytiker dabei die kontinuierliche Kraftanstrengung des Triebverzichts und damit auch „ein gewisses Maß an Zwang“[9] – Recht und Gesetz also, die für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Gemeinschaft notwendig scheinen. Andererseits „braucht [es] nicht gesagt werden, dass eine Kultur, welche eine […] große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu halten, noch es verdient“.[10]
Solange eine Gesellschaft von gleich starken Individuen getragen werde, darf sie als unkompliziert gelten: „Die Gesetze dieser Vereinigung bestimmen dann, auf welches Maß von persönlicher Freiheit, seine Kraft als Gewalt anzuwenden, der Einzelne verzichten muss, um ein gesichertes Zusammenleben zu ermöglichen.“ [11]
Letztendlich hängt für Freud der Ausgang der Schicksalsfrage der Menschheit am seidenen Faden ihres Kulturvermögens, das im Besonderen darauf zu richten sei, „der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb“ [12] entgegenzuwirken.
Nichts anderes kann versucht werden, so scheint es, um auch dem aktuellen Unbehagen, – ja, der Angst im Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft entgegenzuwirken. Weshalb wir uns einmal öfter am Ursprungsort der Psychoanalyse einfinden und im Digitalen vernetzen, um unsere Stimmen zu erheben – für eine über alle nationalen Grenzen hinausreichende offene und von Empathie getragene Gesellschaft, ihre kulturelle Weiterentwicklung sowie den Erhalt des natürlichen Gleichgewichts dieser kostbaren, fragilen und gefährdeten Welt.

 

Monika Pessler
Direktorin
Sigmund Freud Museum





 

 

 

 

 

[1] Vgl. Christfried Tögel (2006), „Die Stimme des Intellekts ist leise. Sigmund Freud und die Gesellschaft“, in: nd – Journalismus von Links (https://www.nd-aktuell.de/artikel/89967.die-stimme-des-intellekts-ist-leise.html), zuletzt abgerufen am 16.2.2023.

[2] Walter Boehlich, Hg. (1989), Jugendbriefe an Eduard Silberstein: 1871-1881, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 111 und 116.

[3] Vgl. George J. Makari (2008), Revolution der Seele. Die Geburt der Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 35.

[4] Vgl. Benigna Gerisch und Thomas Köhler (1993), „Freuds Aufgabe der ̦Verführungstheorie̓: Eine quellenkritische Sichtung zweier Rezeptionsversuche“, in: Psychologie und Geschichte 5, Nr. 4, S. 230.

[5] Vgl. Sigmund Freud (1937), Die endliche und unendliche Analyse, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 88-89.

[6] Siehe dazu: Sigmund Freud (1930), Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 478.

[7] Sigmund Freud (1933), XXXV. Vorlesung über eine Weltanschauung, in: Gesammelte Werke, Bd. 15., S. 173.

[8] Vgl. Jürgen Habermas (1973), Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Vorwort, Berlin: Suhrkamp, S. 332- 333.

[9] Sigmund Freud (1920), Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 362.

[10] Ebenda, S 333.

[11] Sigmund Freud (1931/32), Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 17.

[12] Sigmund Freud (1930), Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 506.