Über Gewalt

Im Jahr 1932 bat Einstein Freud auf Anregung des Völkerbunds, sich mit der Frage „Warum Krieg?“ zu beschäftigen. Ist es möglich, „die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hassens und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden“? Freuds Antwort ist pessimistisch. Gewalt ist im Grunde eine „Triebkomponente“ des Menschentieres. Sie richtet sich sowohl nach innen als auch gegen den anderen, und vermittelt durch das Wachsen von Gefühlsbindungen und Identifizierungen wird sie zum Gruppensystem. Die Gesetze, die Gesellschaften regieren, oder das Wirken eines Systems sind ihrerseits Produkte roher Gewalt: Im schlechtesten Fall stützen sie bloß eine bestehende Macht, im besten ermöglichen sie ihre Umverteilung. Frauen und Kinder, die Schwachen, sind die Unterdrückten, betont Freud. In den romanischen Sprachen wie im Deutschen verweist das Wort Gewalt auf Vergewaltigung. Nur die Stärkung des Intellekts, die Verinnerlichung unserer Aggressionstriebe, was auch immer deren Folgen, können zu einer kulturellen (oder zivilisatorischen) Ablehnung von Krieg und menschlicher Gewalt führen. Freud macht sich vorsichtige Hoffnungen.

Picassos Guernica erinnert an den Schrecken, die Brutalität des Krieges, den Schrecken, den er für Frauen, Kinder, Tiere besitzt. 1937 fiel die Gewalt in Guernica vom Himmel, ebenso wie in all den vielen Kriegen seitdem, von Hiroshima bis in die Ukraine. Schreiende Frauen, ein totes Kind, ein ausgeweidetes Pferd, das Leid ist ziellos. Dennoch ist Picassos Gemälde in seiner emotionalen Darstellung des Schreckens ein Aufruf zur Zivilisation. Das ist es, was Gewalt tut. Denkt nach. Verabscheut sie.

Lisa Appignanesi OBE (britischer Verdienstorden) ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, Romanautorin und Kulturkommentatorin. Sie war Präsidentin des English PEN, Vorsitzende des Freud Museum London und bis 2020 Vorsitzende der Royal Society of Literature, deren Vizepräsidentin sie jetzt ist. Außerdem ist sie Gastprofessorin am King's College London. Zu ihren nichtfiktionalen Publikationen gehören u.a. Everyday Madness: On Grief, Anger, Loss and Love (2018), Trials of Passion: Crimes in the Name of Love and Madness (2014), All About Love: Anatomy of an Unruly Emotion (2011), das preisgekrönte Mad Bad and Sad: A History of Women and the Mind Doctors from 1800 (2008); Freud's Women (1992/2005, mit John Forrester) und ein biografisches Porträt von Simone de Beauvoir (2005). Sie ist außerdem Autorin der von der Kritik gelobten Familienerinnerungen Losing the Dead (1999) und von neun Romanen, darunter The Memory Man (2004, ausgezeichnet mit dem Holocaust Fiction Prize) und Paris Requiem (2001/2014).