Gewalt – Trauma – Geschichte

Im Freud‘schen Denken ist Gewalt zwangsläufig mit Trauma verbunden. Freud lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf die unmittelbare Wirkung von Gewalterfahrungen, sondern auf die verzögerten traumatischen Folgen, entweder durch Wiederholung oder durch Erinnerung an eine „Urszene“. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion verwendet Freud dieses Modell der psychischen Zeitlichkeit von (sexuellen) Traumata, um Wiederholung, Verdrängung und Erinnerung in der Geschichte eines von verdrängten, unzugänglichen vergangenen Gewaltszenen „traumatisierten“ Volkes zu analysieren. Seine Überlegungen gaben Anlass zu zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über Kollektivtraumata durch vergangene Gewalterfahrungen. Doch seine Ideen werfen auch die spekulative Frage auf, welche aktuellen „Gewalttaten“ das Potenzial haben, die Humanoiden zu traumatisieren, die in einer hunderte oder tausende Jahre entfernten Zukunft auf dieser Erde wandeln werden. Welche Geschichte machen wir für künftige Generationen? Besteht sie aus den „Ereignissen“, die wir – narzisstisch – als „historisch“ bezeichnen? In einer von Klimawandel, Artensterben, Verschmutzung und Müllproduktion geprägten Zeit ist dies eine wichtige Frage.

Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.