Ein Aufstand gegen die Todesstrafe

Der Iraner Mohsen Shekari war dreiundzwanzig Jahre alt und wurde am 8. Dezember 2022 hingerichtet, nachdem er schuldig gesprochen wurde, ein Mitglied der Iranischen Basij-Miliz verletzt und „Krieg gegen Gott geführt“ zu haben. Shekaris Hinrichtung wird hier auch deshalb hervorgehoben, weil sie die erste bekannte Hinrichtung in direkter Folge der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste im Iran ist.

Am 16. September 2022 begannen die andauernden Proteste und Unruhen im Iran als Reaktion auf den Tod von Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung durch die Sittenpolizei wegen Tragens eines Hidschabs, der nicht den Regeln der Hidschab-Gesetze im Iran entsprach.

Ich glaube, das, was wir im Iran beobachten, während ich dies schreibe, ist eine der wichtigsten und subversivsten feministischen Bewegungen unserer Zeit. Diese feministische Bewegung ist eine Bewegung, die nicht ausschließt; sie schließt keine Männer aus, sie schließt keine verschleierten Frauen aus, unterschiedliche soziale Klassen und Ethnien sind an - diesem Aufstand beteiligt, der zum Großteil aus Frauen besteht, aber eben nicht nur aus Frauen. Und er ist nicht einmal altersspezifisch, auch wenn er mehrheitlich aus sehr jungen Menschen besteht, die meist zwischen 1995 und 2010 geboren wurden, der sogenannten Generation Z. Denn in dieser Geographie ist überdeutlich geworden, dass unsere Emanzipation zwangsläufig ineinandergreift.

Dieses Gefühl der Verbundenheit und die Einladung zur Gemeinsamkeit liegen diesem Aufstand zugrunde und im Kern ist er eine Revolte gegen die Todesstrafe und die unendlichen symbolischen Schichten einer derartigen Haltung. Er ist ein Marsch für eine Ethik der Lebensbedingungen.

Wir beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, dieser feministische Aufstand bezieht Stellung gegen die Todesstrafe. Nasrin Sotoudeh, die inhaftierte iranische Rechtsanwältin und politische Aktivistin, bezieht Stellung gegen die Todesstrafe. Sotoudeh hat vor Kurzem den Robert Badinter-Preis erhalten, und in ihrer Dankesrede, die sie aus dem Gefängnis übermittelt hat, erinnerte sie daran, dass die öffentliche Meinung heute mehr denn je zuvor für die Abschaffung der Todesstrafe ist.

Wir beziehen entschieden Stellung gegen die Todesstrafe, nicht nur aus unseren humanitären Bestrebungen heraus, sondern weil die Verbundenheit zwischen uns allen auf der Hand liegt und weil, wie Judith Butler uns eindrücklich erinnert, jedes Leben betrauerbar ist. Die Iranerinnen und Iraner sagen nein zur Todesstrafe, was sich eindrucksvoll in diesem Aufstand einer Ethik des Lebens und der Lebensbedingungen ausdrückt.

Schon im Geflecht der Worte „Frau, Leben, Freiheit“ zeigt sich diese klare Verbindung zum Leben, zu Bindung, Verbindung, Libido und Sublimierung … Sie sagen nicht, “wir wollen sterben für die Freiheit“, sie sagen, „wir wollen leben für die Freiheit“: Sie gehen auf die Straße und riskieren für bessere Lebensbedingungen ihr Leben. Ein Leben in Würde, Freude, Freiheit und Veränderung, eben all die Ableitungen des Lebenstriebs.

Die Menschen im Iran beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, das ist der Kern dieses Aufstands. Wenn also gegen Mohsen Shekari die Todesstrafe verhängt wird und weitere Hinrichtungen zu befürchten sind, gehen sie auf die Straße … denn diesem Aufstand innewohnend ist die Ablehnung des stummen Thanatos, eine Ablehnung, die nur aus der Anerkennung dieses Triebs in jedem einzelnen von uns entstehen kann.

Erlauben Sie mir das Beispiel meines Großvaters mütterlicherseits, nicht, weil er mein Großvater war, sondern als Metapher dafür, was ich hier ausführen will. Er war vor der Islamischen Revolution von 1979 Bezirksstaatsanwalt von Teheran, und obwohl ihm die Todesstrafe zur Verfügung stand, griff er nie darauf zurück, selbst wenn das für ihn äußerst konfliktreich und brisant wurde. Er glaubte nicht an die Todesstrafe, ohne wenn und aber. Nach der Revolution sollte er wegen seiner engen Beziehungen zum Vorgängerregime hingerichtet werden. Doch eben jene Menschen, deren Verurteilung zum Tode er verhindert hatte, waren nun diejenigen, die ihn hinrichten sollten, und sie brachten es nicht über sich, die Exekution des Mannes anzuordnen, der ihr Leben verschont hatte. So nahmen sie ihm den Pass und einen Großteil seines Besitzes, lehnten es aber ab, ihn zum Tod zu verurteilen. Er wurde 98 Jahre alt, und bis zu seinem Lebensende diskutierten wir heftig und hatten leidenschaftliche Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf alle anderen politischen Fragen, aber wir waren beide gegen die Todesstrafe. Es versteht sich von selbst, dass er auch Glück gehabt hat, im Unterschied zu vielen anderen mit ähnlichen ethischen Einstellungen, die hingerichtet wurden und weiter hingerichtet werden. Es geht hier um eine kompromisslose Haltung gegen Hinrichtungen, für alle Meschen, in jedem Land, unter allen Umständen.

Wir beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, nicht aufgrund einer Moral: Denn mit Nietzsche, Derrida, Freud, Lacan … wurden wir mit der Prekarität unseres Rechtsempfindens konfrontiert, mit der Grausamkeit, die sich hinter der Moral verbirgt, und damit, wie sehr Kants kategorischer Imperativ in Grausamkeit wurzelt. Mit Freud wurden wir mit unserem unvermeidlichen inneren Todestrieb konfrontiert, mit Aggression, Ambivalenz und der Wahrheit, dass die Lust an der Zufügung von Grausamkeit als moralische Pflicht maskiert werden kann. Wir sind uns sogar Derridas Feststellung zutiefst bewusst und haben sie ständig vor Augen, nämlich dass Gegner der Todesstrafe sich letztlich auf andere Formen von Grausamkeit festlegen können, etwa lange und qualvolle Haftstrafen. Und wir können auch Derridas absolute psychoanalytische Haltung nicht verneinen, dass die Haltung von Gegner:innen der Todesstrafe – ihn selbst eingeschlossen – in gewisser Weise aus einem unbewussten Schuldgefühl entsteht, aus der Angst, das eigene Leben zu verlieren, und so in gewisser Weise die Motivation zur Abschaffung der Todesstrafe aus unserer eigenen Angst davor entsteht, verurteilt zu werden. All das trifft zu, aber trotz meiner großen Bewunderung für Derrida (und wie Judith Butler großartig herausgearbeitet hat): Das ist nicht alles. Vielleicht beziehen wir, bezieht das iranische Volk aus einer nicht-humanitären Gastfreundschaft heraus Stellung, übrigens ein weiterer Begriff von Derrida. Vielleicht hat mein Großvater nicht aus Eigennutz Stellung gegen die Todesstrafe bezogen, oder aus einer Ahnung, dass diese Haltung ihm selbst eines Tages das Leben retten könnte, sondern wegen einer echten Wahrnehmung unserer Verbundenheit, des „Ichs“, das nur durch den anderen möglich wird, aus dem Gefühl, ein denkendes Subjekt zu sein und zu wissen, dass wir alle unvermeidlich miteinander verbunden sind. Ich glaube, mein Großvater hat sich an dem Tag, an dem er Stellung gegen die Todesstrafe bezogen hat, selbst das Leben gerettet, nicht deshalb, weil diese Haltung ihm später tatsächlich das Leben gerettet hat, sondern weil wir in dem Augenblick, in dem wir zum Henker eines anderen Lebens werden, einen Teil von uns selbst töten, uns dem Urteil anschließen, uns selbst und unser Gefühl der Verbundenheit mit dem anderen abtöten, und das ist kein Leben. Denn zu überleben, unterscheidet sich drastisch davon, ein Leben zu leben, und ein Leben zu leben, ist nur möglich, indem das Subjekt durch ein Bewusstsein für den anderen entsteht. Wir sind uns bewusst, dass dieser Weg seine eigenen Höllen und Probleme mit sich bringt, und doch ist er der einzig mögliche Weg, ein denkendes Subjekt zu werden.

Somit hat mein Großvater sein Leben gerettet, lange bevor sein Leben von jemand anderem gerettet wurde, er hat sein Leben an dem Tag gerettet, als er ein authentisches Gefühl einer Verbundenheit und eines Nebeneinanders entwickelt hat. Das ist die Tradition dieses Aufstands, von Frau, Leben und Freiheit, in dem die Menschen im Iran und insbesondere die Frauen ihr authentisches Herkunftsgefühl bewiesen haben, ihr Gefühl für die objektalisierende Funktion des Triebs, für Verbundenheit und Gemeinsamkeit, für ein Gefühl der Verbindung, ein Marsch hin zum Leben mit dem Bewusstsein des ihm innewohnenden Todestriebes mit all seinen Verführungen und Fallen am Wegesrand, nicht, weil wir Derridas Warnungen bezüglich unserer aggressiven Anteile nicht zustimmen würden, sondern genau deshalb, weil wir sie in uns und im anderen angenommen haben, jedem „anderen“, hier in meinem Land und in Ihrem. Wir beziehen kompromisslos Stellung gegen die Todesstrafe, weil wir uns damit nicht nur an einer Ethik des Lebens orientieren, sondern an einer Ethik, die sich des zentralen Signifikanten der Lebensbedingungen bewusst ist.

Wir revoltieren mit diesem Aufstand von „Frau, Leben, Freiheit“ in einer getrennten Gemeinsamkeit gegen die Todesstrafe im Iran, nicht im Namen der Gleichheit, sondern im Namen der Differenz und all dessen, was sie auf inhärente, unvermeidliche Weise repräsentiert. Kein Wenn und Aber, denn letzten Endes ist er eine Ethik der Erotik, der Liebe, des Lebens und der Lust mit allen ihren Ambivalenzen, Konflikten und Widersprüchen. Denn etwas anderes zu sagen, hieße, einen Teil von uns selbst zu verneinen, der zurückkommen und uns jagen wird, wie Freud gewarnt hat, und wir müssen uns der Illusion von schlafenden Hunden gewahr sein, die in Wirklichkeit hellwach sind und bellen.

Denn in dem Augenblick, in dem das Leben einer anderen Person und ihre Lebensbedingungen nicht mit Würde und Betrauerbarkeit behandelt werden, beginnen unsere Leben zu enden, selbst wenn wir überleben.

 

Gohar Homayounpour

Teheran, 10. Dezember 2022

Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).