ABSTRACTS UND BIOGRAFIEN
Alexi Kukuljevic: Moderation
Alexi Kukuljevic ist Philosoph und Künstler. Er ist Dozent an der Abteilung für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Autor von Liquidation World: On the Art of Living Absently, erschienen bei MIT Press (2017). Derzeit arbeitet er an einem Buch mit dem Titel Like Hell It Is: Horror and Hilarity. Das Buch befasst sich mit dem schwarzen Humor von Marquis de Sade über Samuel Beckett bis hin zu Komiker Richard Pryor. Seine Werke wurden bereits in zahlreichen Institutionen wie dem Palais de Tokyo in Paris, dem ICA in Philadelphia und dem Museum für zeitgenössische Kunst in Ljubljana ausgestellt. Seine Forschungen befassen sich vor allem mit Kunst- und Literaturtheorie, postkantianischer Kritik der Metaphysik, Psychoanalyse und zeitgenössischer französischer Philosophie.
Alexandra Schauer: Future Lost. On the Crisis of Historical Consciousness in Flexible Capitalism
(Vortrag auf Englisch)
Future Lost. Zur Krise des historischen Bewusstseins im flexiblen Kapitalismus
In Reaktion auf den ersten Weltkrieg als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« hat Walter Benjamin als Signum der Zeit einen Verlust mitteilbarer Erfahrung diagnostiziert. Die Kluft zwischen der Vorkriegsrealität des Reisens mit der »Pferdebahn« und dem industrialisierten »Stellungskrieg schien derart eklatant, dass sie auch erzählend nicht mehr zu überbrücken war. Insofern waren die Leute nicht reicher, sondern ärmer an mitteilbarer Erfahrung aus dem Felde zurückgekehrt. Auch Sigmund Freuds in jene Zeit fallende Entdeckung des traumatischen Wiederholungszwangs lässt sich – wenngleich unter anderen Vorzeichen – als Diagnose eines Erfahrungsverlustes verstehen. Das zwanghafte Festhalten an einer leidvollen Erfahrung verhindert einen sinnvollen Zukunftsbezug, so dass auch hier die Zeit zugleich zerbrochen und stillgestellt zu sein scheint. Im flexiblen Kapitalismus der Gegenwart ist jene Abwesenheit von Zukunft, die einstmals als Folge einer historischen Katastrophe in Erscheinung trat, zu einem Alltagsphänomen geworden. Statt als unbegrenzter Möglichkeitshorizont wird die Zukunft als ein unkontrollierbares Gefahrengebiet erlebt. Psychoanalytisch interessant ist, dass diese Imagination einer apokalyptischen Zukunft oftmals mit einer fatalistischen Gelassenheit korrespondiert: Verdrängt werden nicht nur die Angst, die dieser Zukunft angemessen wäre, sondern auch die gesellschaftlichen Gestaltungspotenziale, mit denen diese sich ändern ließe. Stattdessen wird ein Wiederholungszwang eigener Art installiert, der im Weiter-so sozial-ökologischer Verwüstung besteht. Der Vortrag geht diesem Zusammenhang zwischen dem Verlust von Zukunft und den destruktiven Krisenverarbeitungen nach.
Dr. Alexandra Schauer, zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt, hat Soziologie und Philosophie in Jena und Paris studiert. Im Wintersemester 2021/22 war sie Gastprofessorin für Kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Geforscht oder gelehrt hat sie zudem in Basel, München und New York. 2023 ist ihr Buch Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung bei Suhrkamp erschienen, für das sie mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie mit dem Wilhelm-Liebknecht-Preis der Stadt Gießen ausgezeichnet wurde. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse.
Isabel Millar: Three Body Problem: Can the San-Ti Speak?
(Vortrag auf Englisch)
Three Body Problem: Kann der San-Ti sprechen?
Das Akronym TESCREAL umschreibt und kritisiert verschiedene miteinander verknüpfte Ansätze zur Zukunft der Künstlichen Intelligenz und der Raumfahrt, die von der üblichen Parade übermütiger weißer Männer eines gewissen Alters mit einer Vorliebe für eugenistische Ideen mit „Happy End“ vorgebracht werden. Es steht für Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Kosmismus, Rationalismus, Effektiv-Altruismus und Langfristigkeit. Es fasst und umschreibt auch das, was wir als phallisches Vergnügen des Technokapitalismus bezeichnen könnten, oder, wie Jacques Lacan es ausdrückte, die jouissance (das Genießen) des Idioten. Was sie alle gemeinsam haben, ist etwas, was die Psychoanalyse nur allzu gut kennt: das (immer schon vereitelte) Verlangen nach dem erweiterten Menschen, dem vollständig erfüllten Organismus, der jederzeit vor Vitalität, Lust und Potenzialität strotzt. Kurzum, ein totaler Körper. Was dabei ausgeblendet wird, ist die zwangsläufige Hinfälligkeit des Körpers und die Abwesenheit von Bedeutung, die jeglicher Subjektivität zugrunde liegt. Gestützt und aufrechterhalten wird diese Ganzheitsphantasie durch zahlreiche fiktionale Darstellungen der Zukunft, in denen viele faszinierende psychologische und konzeptionelle Aspekte dieser imaginierten Welten oft außer Acht gelassen werden. Die Netflix-Adaption von Lui Cixins Roman Three Body Problem (Die drei Sonnen) ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie phallische Phantasien von KI und nicht-menschlichen Formen der Intelligenz (wie jene der San-Ti des Planeten Trisolaris) etwas auslassen: nämlich die psychoanalytische und philosophische Komplexität, die nicht nur dem Zurechtkommen des menschlichen Subjekts (oder sprechender Wesen) mit dem Potenzial anderer Intelligenzen, sondern unserer gesamten Beziehung zu Zeit und Raum zugrunde liegt.
Isabel Millar ist Philosophin und Psychoanalyse-Theoretikerin aus London. Sie ist Autorin des Buches The Psychoanalysis of Artificial Intelligence, das 2021 in der Palgrave Lacan Series veröffentlicht wurde, und von Patipolitics, das demnächst bei Bloomsbury erscheint. Neben ihrer umfangreichen internationalen akademischen Vortrags- und Publikationstätigkeit ist ihre Arbeit in einer Vielzahl von Medien zu finden, darunter Fernsehen, Podcasts, Zeitschriften und Kunstinstitute. Derzeit ist sie assoziierte Forscherin an der Newcastle University, Fachbereich Philosophie, und Dozentin am Global Centre for Advanced Studies, Institute of Psychoanalysis.
Alessandra Lemma: Mourning, Melancholia and Machines: An Applied Psychoanalytic Investigation of Mourning in the Age of Griefbots
(Vortrag auf Englisch via Zoom)
Trauer, Melancholie und Maschinen: Eine angewandte psychoanalytische Untersuchung der Trauer im Zeitalter der Griefbots
Tod und Trauer werden zunehmend geprägt durch posthume Möglichkeiten der Toten, das gegenwärtige Leben in einer Weise zu beeinflussen, die in vordigitalen Generationen nicht möglich war. Die psychologischen und soziologischen Auswirkungen der „Online-Toten“ und der „Grief Tech“ werden erst allmählich verstanden. Bis zu diesem Beitrag, der eine Art von Grief Tech, nämlich den Griefbot, untersucht, wurden sie noch nicht psychoanalytisch erforscht. Diese Entwicklung wird durch eine psychoanalytische Lektüre einer Episode der britischen Fernsehserie Black Mirror kritisch untersucht.
Ich schlage vor, dass ein psychoanalytisches Modell der Trauer eine unschätzbare Perspektive bietet, die uns hilft, über das Potenzial dieser Technologie sowie über die mit ihr verbundenen psychologischen und ethischen Risiken nachzudenken. Ich argumentiere, dass die Unsterblichkeit der Toten durch digitale Permanenz der schmerzhaften Realität des Verlustes und der Anerkennung des Andersseins entgegenwirkt, die für das psychische Wachstum und die Integrität unserer Beziehungen zu anderen grundlegend ist. In Anlehnung an Jacques Derridas Konzept der „ursprünglichen Trauer“ schlage ich vor, dass Trauer ein unaufhörlicher Prozess ist, der uns dazu herausfordert, die Andersartigkeit des verlorenen Objekts in uns selbst zu bewahren. Die Werkzeuge, die wir für die Trauerarbeit verwenden, müssen zuallererst an diesem psychologischen und grundlegend ethischen Prozess gemessen werden.
Alessandra Lemma, Fellow der British Psychoanalytic Society und zugelassene klinische und beratende Psychologin, ist Gastprofessorin an der Psychoanalysis Unit des University College London sowie Beraterin am Anna Freud Centre und Gastprofessorin am Centro Winnicott in Rom. 16 Jahre lang arbeitete sie an der Tavistock Clinic, wo sie in verschiedenen Phasen Leiterin der Psychologie und Professorin für psychologische Therapien in Zusammenarbeit mit der Universität Essex war. In Anerkennung ihrer theoretischen und klinischen Beiträge zum Verständnis von Praktiken der Körpermodifikation, der Auswirkungen von Technologie auf das psychische Funktionieren und Transgender-Identitäten sowie für ihre Bemühungen um die Entwicklung und weltweite Verbreitung einer psychoanalytischen Kurzintervention bei Stimmungsstörungen, wurde sie mit dem Sigourney Award 2022 ausgezeichnet. Sie ist ehemalige Chefredakteurin der Buchreihe New Library of Psychoanalysis und derzeitige Vorsitzende des Verwaltungsrats des International Journal of Psychoanalysis. Sie hat zahlreiche Publikationen zu den Themen Psychoanalyse, Trauma, Körper und Transgender veröffentlicht. Ihre neuesten Bücher sind: First Principles: Applied Ethics for Psychoanalytic Practice (OUP, 2023) und Dynamic Interpersonal Therapy: A Clinician's Guide (Zweite Auflage, OUP, 2024). Ihr demnächst erscheinendes Buch (2025) ist: Introduction to the Practice of Psychoanalytic Psychotherapy (Dritte Auflage).
Minna Antova: Führung
Minna Antova wurde in Sofia, Bulgarien, geboren und studierte in Sofia, Stockholm und Wien, wo sie die Meisterschulen für Malerei und Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste sowie Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien besuchte. Als Welt-Raum-Archäologin stützt sich ihre Arbeit auf die Auseinandersetzung mit öffentlichen Werken und Mythen, mit dem Sakralen und Profanen, mit Phänomenen der Gegenwart und Zukunftsvisionen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Konstruktion und Dekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses im öffentlichen Raum, der Akkulturation und der Komplexität von Geschlecht. Ihre Ausstellungen wurden unter anderem in London, Madrid, Guatemala City, China, Polen und Bulgarien gezeigt. Als nationales Kulturgut befindet sich ihr Werk im Besitz des Bundesministeriums für Kunst und Kultur der Stadt Wien, der Niederösterreichischen Landesregierung und des Landes Salzburg.
Jeanne Wolff Bernstein: Moderation
Jeanne Wolff Bernstein ist Psychoanalytikerin und lebt und arbeitet in Wien. Sie ist Mitglied, Lehranalytikerin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse (WAP). Sie ist Vorsitzende des Beirats der Sigmund Freud Privatstiftung, wo sie 2008 Fulbright-Freud Visiting Lecturer of Psychoanalysis war. Vor ihrer Übersiedlung nach Wien war Jeanne Wolff Bernstein ehemalige Präsidentin, Supervisorin und Analytikerin am PINC (Psychoanalytic Institute of Northern California). Sie ist Mitglied des Lehrkörpers des PINC und des NYU Postdoctoral Program und unterrichtet am WAP. Sie hat zahlreiche Artikel zu den Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören das Kapitel über Jacques Lacan in The Textbook of Psychoanalysis (2012/2024), “Living between two languages: A Bi-focal Perspective, in Immigration in Psychoanalysis” (Routledge, 2016) und “Unexpected Antecedents to the Concept of the Death drive: A Return to the Beginnings”, in Contemporary Perspectives on the Freudian Death Drive, in Theory, Clinical Practice and Culture (Routledge, 2019)
Ihr Buch The Lure of the Gaze and the Past erscheint demnächst im Alexander Verlag. Außerdem ist sie zusammen mit Daniela Finzi Mitherausgeberin von Thoughts for the Time on Groups and Masses, A Sigmund Freud Museum Symposium (Leuven University Press, 2024).
Rachael Peltz: The Dialectic of Presence and Absence –Today!
(Vortrag auf Englisch)
Die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit - heute!
Unsere Arbeit als Psychoanalytiker:innen basiert auf der Fähigkeit, die Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit aufrechtzuerhalten. In der Tat kommen Patient:innen oft zu uns, weil sie an einem Leiden leiden, das auf der Unfähigkeit beruht, diese Spannung auszuhalten. Jede Analyse beinhaltet Schwankungen in der Fähigkeit, neue Bedeutungen zu erzeugen, je nach der Art der Ängste, die bei dem/der Patient:in, bei dem/der Analytiker:in oder bei beiden vorhanden sind und von ihnen bewältigt werden können. Unterbrechungen des kreativen Prozesses können zu Sackgassen in der Behandlung führen, wenn primitive Ängste nicht eingedämmt werden und projektive Identifikationen überhandnehmen.
In diesem Vortrag werde ich Sackgassen als psychische und philosophische Zusammenbrüche bezeichnen, bei denen eine Polarisierung von Anwesenheit und Abwesenheit erfolgt und die Fähigkeit verloren geht, aus der Abwesenheit eine Anwesenheit zu konstituieren. Ich werde auch den Paradigmenwechsel in der heutigen Psychoanalyse hervorheben, in der wir aufgerufen sind, unsere Anwesenheit auf eine Vielzahl von verbalen/symbolischen und nonverbalen/vorsymbolischen und prozessualen Wegen aktiv zu etablieren, als Voraussetzung für die Möglichkeit der Entstehung neuer Bedeutung, insbesondere im Kontext dieser traumatischen Zeiten.
Rachael Peltz, Ph.D. ist Lehranalytikerin, Fakultätsmitglied und Co-Direktorin des Community Psychoanalysis Track am Psychoanalytischen Institut von Nordkalifornien. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Psychoanalytic Dialogues und veröffentlicht Aufsätze über psychoanalytisches Zuhören, Tiefe, die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, Sackgassen in der analytischen Paararbeit, die Bion‘sche Feldtheorie, die manische Gesellschaft sowie über unter dem Resignationssyndrom leidende Flüchtlingskinder als Gleichnis für unsere Zeit und die Gründung des ersten Ausbildungszweigs für communitiy-orientierte Psychoanalyse an einem psychoanalytischen Institut. Sie arbeitet mit Erwachsenen, Jugendlichen, Paaren, Familien und Gruppen in Berkeley, Kalifornien.
Cecilia Taiana: Mourning the Dead, Mourning the Disappeared
(Vortrag auf Englisch)
Trauer um die Toten, Trauer um die Verschwundenen
Freuds Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Todes auf die Lebenden reicht weiter zurück als „Trauer und Melancholie“ (1917); bereits in Totem und Tabu (1912 – 13) wies er auf die Gefühlsambivalenz hin, die wir im Zusammenhang mit den Toten erleben. In diesem Vortrag konzentriere ich mich auf Freuds „Trauer und Melancholie“ als einen Meilenstein für das Verständnis sowohl der normalen als auch der psychopathologischen Aspekte von Trauer und depressiven Prozessen beim Menschen. Freuds Schrift „Trauer und Melancholie“ schlägt eine Brücke zwischen seinem ersten und zweiten topischen Modells des psychischen Apparats und bildet für viele Autor:innen die Grundlage seiner Theorie der inneren Objektbeziehungen.
Mit diesem psychoanalytischen Verständnis von Trauer als Rahmen erörtere ich „besondere Trauerprozesse“, wie sie Psychoanalytiker:innen in Argentinien bei der Behandlung der Angehörigen von Tausenden von Verschwundenen erlebten: „besonders“ in dem Sinne, dass die von Freud beschriebene äußere Realität, die den Ausgangspunkt des psychischen Trauerprozesses bildet, abwesend war. Ich behaupte, dass die „abwesende Präsenz“ des Körpers als rätselhafte Botschaft einen besonderen Trauerprozess in Gang setzt, der bestimmte Merkmale der Verführungstheorie von Jean Laplanche aufweist und mit ihr isomorph ist.
Cecilia Taiana, Ph.D., geboren in Argentinien, ist Psychoanalytikerin in Ottawa, Kanada. Ihre jüngsten Artikel, die Teil einer Trilogie sind, lauten What does poetry offer psychoanalysis? Robert Frost's Sound Sense, CJP, Frühjahr 2022, und T. S. Eliot's Concept of Tradition, CJP, Herbst 2022. Der dritte Artikel handelt von Wallace Stevens, Kenner des Chaos, und seiner Vorstellung von Bewegung, CJP, erscheint 2024. Die Zeitschrift for da hat zwei von Cecilias Gedichten veröffentlicht, A Tale of Sounds, Herbst 2022 und Émilie du Châtelet, Frühjahr 2023. Ein drittes Gedicht, Our Abiding Companion, wurde bei der Kanadischen Psychoanalytischen Gesellschaft zur Veröffentlichung in deren Website Poet's Corner eingereicht.
Joachim Küchenhoff: Ambivalences of Absence. Coping, Avoiding, Accepting, Using, Mourning
(Vortrag auf Englisch)
In dem Beitrag wird es darum gehen, aus einer psychoanalytischen Perspektive die vielen Facetten der Abwesenheit zu umreißen und die in ihnen jeweils enthaltene Ambivalenz oder ergebnisoffene Polarität zu betrachten. Abwesenheit kann unterschiedlich ausgeprägt sein und sich bloß als Herausforderung oder aber als Trauma erweisen. Sie kann sich, ungeachtet ihrer Schwere, einem Zufall verdanken oder aber mit der menschlichen Existenz unvermeidbar verbunden sein. In der Regel wird sie als ein Widerfahrnis erlebt, das vom Anderen ausgeht, z.B. wenn er weggeht; aber sie kann auch von der Person selbst bestärkt oder sogar gesucht werden.
Definitionsgemäß ist Abwesenheit ein Entzug, eine Negativität, die in ihren Folgen sich aber sowohl als produktiv wie als destruktiv erweisen kann. Der Objektverlust, der mit Abwesenheit verbunden sein kann, kann mit Trauer oder mit Melancholie beantwortet werden. Sie sind vergleichbar darin, dass beide um die dauerhafte Anwesenheit des abwesenden Objekts ringen, allerdings auf andere Weise und mit anderen Folgen für die von der Abwesenheit des Objekts getroffene Person.
Joachim Küchenhoff, Prof. Dr. med., praktiziert als Psychoanalytiker (DPV, SGPsa, IPA), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Basel. Er ist Professor emeritus der Universität Basel, Vorsitzender des Aufsichtsrates und Gastprofessor der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin, wissenschaftlicher Beirat u.a. des Sigmund Freud – Instituts Frankfurt und der Lindauer Psychotherapiewochen. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen
(www.praxis-kuechenhoff.ch).
Daniela Finzi: Moderation
Daniela Finzi ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sigmund Freud Museum tätig, ist sie seit 2016 wissenschaftliche Leiterin und Vorstandsmitglied der Sigmund Freud Privatstiftung. Sie ist im Vorstand des kulturwissenschaftlichen Vereins aka – Arbeitskreis Kulturanalyse, Mitglied des Herausgebergremiums von aka/ Texte (Turia+Kant) sowie von Sigmund Freuds Werke. Wiener Interdisziplinäre Kommentare (Vienna University Press, Vandenhoeck&Ruprecht). Zu ihren jüngsten Publikationen zählt der mit Monika Pessler herausgegebene Katalog FREUD. Berggasse 19 – Ursprungsort der Psychoanalyse (Hatje Cantz, 2020), gemeinsam mit Elana Shapira, der Sammelband Freud and the Émigré (Palgrave Macmillan, 2020) sowie, gemeinsam mit and, together Jeanne Wolff Bernstein, die Anthologie Thoughts for the Times on Groups and Masses (2025). Am Sigmund Freud Museum hat sie zahlreiche Ausstellungen (co-) kuratiert, darunter Organisierte Flucht – Weiterleben im Exil. Wiener Psychoanalyse 1938 und danach (2021) und Gewalt erzählen. Eine Comic-Ausstellung (2023).
Monika Pessler: Absence or What Remains
(Vortrag auf Englisch)
Abwesenheit oder Was bleibt
Der Begriff Abwesenheit, eine signifikante Größe für die historischen Entwicklungen am Ursprungsort der Psychoanalyse, sollte auch für die Neugestaltung des Museums 2020 einen Anknüpfungspunkt bieten. Schon zuvor waren interne und externe Expert:innen aufgerufen, sich folgender Frage zu stellen: Wie kann Freuds Kulturwerk ins Bild gesetzt werden, wenn an seiner ehemaligen Wirkungsstätte vor allem das, was nicht mehr da ist, ins Auge sticht? – Denken wir nur an seine Couch, die Freud auf seiner Flucht vor dem Nazi-Regime ins Londoner Exil mitnahm. Aus künstlerischer und architektonischer Perspektive liefert die Frage selbst die Antwort. Entsprechend steht die Gegenwart des Abwesenden bis heute im Zentrum unserer museologischen Interventionen. Dabei erweist sich das Haus selbst als ein Schlüsselfaktor. Auch das Interesse der Öffentlichkeit scheint einem allgemeinen Bedürfnis zu entspringen, die Ursprünge der Psychoanalyse direkt vor Ort zu erkunden und so auch am Verlauf der (eigenen) Geschichte teilzuhaben.
Im Zuge der Rezeption unterliegt dieser Akt der Selbstverortung einem kontinuierlichen Abgleich von dem, was einst dort war mit dem, was verblieben bzw. noch zu sehen ist. Dabei sind die äußeren Wahrnehmungsreize, die sich heute am Ursprungsort der Psychoanalyse offenbaren, vorwiegend auf bauliche Fragmente reduziert und im Besonderen auf das augenscheinlich Verlorengegangene, das Abwesende. Mit den Bildfindungen der Architekturfotografin Hertha Hurnaus und anderen „Erinnerungsresten“ eröffnet sich die Gelegenheit, der Ursprünglichkeit des Ortes und seinen Bedeutungszuschreibungen – dem Genius Loci der Berggasse 19 – konzentriert nachzugehen.
Monika Pessler ist seit 2014 die Direktorin des Sigmund Freud Museums in Wien. Sie studierte Kunstgeschichte, absolvierte eine Ausbildung zur Museums- und Ausstellungskuratorin am Institut für Kulturwissenschaften an der Donauuniversität Krems. 2014 erfolgte der Abschluss des Masterstudiums in Organisationsentwicklung am IFF, Alpen Adria Universität Kärnten. Sie war als Kuratorin am heutigen Museum Moderner Kunst Kärtnten beschäftigt, dem zeitgenössischen Kunstfestival »steirischer herbst« und leitete von 2003 bis 2013 die Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung. Seit 2014 ist sie die Direktorin des Sigmund Freud Museums in Wien. Umfassende Ausstellungtätigkeit, Vorträge und Publikationen zur zeitgenössischen Kunstproduktion, Architektur, Museumsorganisation und -entwicklung. SURREAL! Vorstellung neuer Wirklichkeiten (2023) und DAS UNHEIMLICHE. Sigmund Freud und die Kunst (2024).
Leonard Schwartz: H.D., Freud, and the Mental Image
(Vortrag auf Englisch)
H.D., Freud und das mentale Bild
Die Dichterin H.D. (1886 – 1961) ist eine Schlüsselfigur in der Entwicklung der amerikanischen Avantgarde-Poesie. Sie arbeitete 1933 – 1934 mit Freud zusammen, besuchte die Berggasse 19 als Patientin wie auch als Freundin und schrieb sowohl „Advent“ als auch „Schrift an der Wand“ über ihre Begegnungen. Beide Arbeiten wurden in ihrem Buch Tribut an Freud zusammengeführt. Für H.D. war der von überraschenden und anregenden Objekten umgebene Freud Janus, der römische Gott der Türen und Schwellen. Die Dichterin und der Psychoanalytiker betrachteten gemeinsam H.D.s mystische Erfahrung der Sprache, die von den abwesenden Göttern auf eine Wand in Korfu im Jahr 1920 projiziert wurde, und die Krisen, zu denen diese Begegnung für H.D. führte.
Ob in ihrer frühen imagistischen Phase oder in ihrem späteren palimpsestischen und mythopoetischen Werk: das mentale Bild – die Abwesenheit des Dings selbst und der Wunsch, es gegenwärtig erscheinen zu lassen – steht im Mittelpunkt von H.D.s Poesie. Steht man auf einer Schwelle oder in einer Tür, um in beiden Räumen abwesend zu sein, oder ist man wach für die Möglichkeit, in beiden anwesend zu sein? Wie hält ein Gedicht seinen Leser auf der Schwelle? Wie das Sigmund Freud Museum selbst deutlich macht, sind Türen sowohl gegenständlich als auch geheimnisvoll.
Leonard Schwartz ist Autor zahlreicher Gedichtbände, darunter zuletzt Actualities I: Transparent, to the Stone, Actualities II: Two Burned Hotels und Actualities III: Comic Earth (2021, 2022, 2023 Goats & Compasses), sowie Heavy Sublimation (Talisman House) und, zusammen mit dem Künslter Simon Carr, Horse on Paper (Chax Press),. Seine Werk The New Babel: Toward a Poetics of the Mid-East Crises (University of Arkansas Press), umfasst Gedichte, Essays und Interviews. Weitere Titel sind If (Talisman House), A Message Back and Other Furors (Chax Press) und The Library of Seven Readings (Ugly Duckling Presse). Außerdem hat er Benjamin Fondanes Cinepoems and Other (New York Review Books) herausgegeben und mitübersetzt. Schwartz ist US-amerikanischer und österreichischer Staatsbürger.
Viktor Mazin: The Holes and the Real: Lacan and Langoliers
(Vortrag auf Englisch)
Die Löcher und das Reale: Lacan und Langoliers
In meiner Forschung auf dem Gebiet der Abwesenheit folge ich der Freud‘schen Tradition der Selbstanalyse und gehe aus von meiner besonderen Erfahrung der Löcher im Raum, die verschwundene Menschen hinterlassen. Diese Erfahrung war ein Moment, der sich wie eine Abwesenheit anfühlte. Sie war real. Diese Erfahrung ließ mich an Stephen Kings Bild von Kreaturen denken, die Langoliers genannt werden. Die Anwesenheit der Langoliers ist abwesend, sie sind als halluzinatorische Klänge erkennbar, die aus der dem Realen zurückkehren. Diese Geräusche gehören zum oralen Delirium, das das Bild der oralen Löcher, der riesigen, den Raum verschlingenden Mäuler der Langoliers erzeugt. Der Raum ist von Löchern korrodiert.
Das Loch [trou] ist ein wichtiger Begriff in der Lacan‘schen Lehre. In Abgrenzung zum Mangel [manque] und zur Lücke [béance] ist er dennoch ein heterogener Begriff. Das einzige gemeinsame Merkmal der verschiedenen Löcher ist, dass sie sich immer auf das Reale beziehen. Entlang verschiedener Versionen des Lochs – Loch in der Wahrheit, Loch in der Psychose, Loch im Traumgewebe, Loch im Realen – kommen wir zurück zu den Löchern, die die verschwundenen Menschen hinterlassen haben, zur Melancholie als „Loch im Psychischen“ (Sigmund Freud).
Dr. Viktor Mazin, Ph.D., ist praktizierender Psychoanalytiker. Der Gründer des Freud's Dream Museum in St. Petersburg (1999) ist Ehrenmitglied des Museum of Jurassic Technology (Los Angeles) sowie Leiter der Abteilung für theoretische Psychoanalyse am Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse (St. Petersburg), außerordentlicher Professor an der Fakultät für freie Künste und Wissenschaften der Staatlichen Universität St. Petersburg und Ehrenprofessor des Instituts für Tiefenpsychologie (Kiew). Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Russische tätig und war Chefredakteur der Zeitschrift Kabinet und Mitglied der Redaktionsausschüsse folgender Fachzeitschriften: Psychoanalysis (Kiew), European Journal of Psychoanalysis (Rom), Transmission (Sheffield), Journal for Lacanian Studies (London). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher über Psychoanalyse, Dekonstruktion, Kino und bildende Kunst verfasst.
Lorenzo Chiesa: Anxiety: Absence as a Presence, Elsewhere
(Vortrag auf Englisch)
Angst: Abwesenheit als Anwesenheit, anderswo
Jacques Lacans Theorie der Angst erstreckt sich über mindestens drei Seminare und endet mit dem Seminar X, Die Angst. Er befasst sich mit phänomenologischen, strukturellen und ontologischen, aber auch ethischen und politischen Aspekten der Angst. In diesem Beitrag werde ich mich hauptsächlich auf den phänomenologischen Aspekt konzentrieren. Was erleben wir, wenn wir ängstlich sind? Diese banale Frage hat natürlich direkte Auswirkungen auf die klinische Praxis, und zwar sowohl in Bezug darauf, wie der/die Analytiker:in Phänomene wie Depersonalisierung versteht, als auch in Bezug darauf, wie die Angst in der psychoanalytischen Behandlung konstruktiv genutzt werden kann. Lacan behauptet, dass „Angst entsteht, wenn etwas am Ort der Abwesenheit auftaucht“. Dies ist der Ort, der im Selbstbewusstsein das Subjekt des Anspruchs und das beanspruchte Objekt als immer mangelnd konstituiert. Das wird von Kommentator:innen auf zwei verschiedenen Weisen gelesen. Erstens: Wenn in der Angst etwas an der Stelle der Abwesenheit erscheint, dann läuft die Angst auf die Abwesenheit von Abwesenheit als etwas (something) hinaus (the absence of absence as something). Zweitens würde die Angst für eine „katastrophale Reaktion“ stehen, die die Abwesenheit fixiert und die zu Entsubjektivierung führt.
Ich werde argumentieren, dass meine Haltung in dieser Hinsicht genau das Gegenteil ist. Erstens offenbart sich in der Angst „die Abwesenheit als das, was sie ist“ qua Abwesenheit und kann daher nicht auf etwas reduziert werden, das aus der Abwesenheit der Abwesenheit resultiert. Was die Abwesenheit ist, „offenbart sich vielmehr [als] Anwesenheit an einer anderen Stelle“, nämlich als Präsenz dessen, was Lacan „Objekt a“ nennt. In der Angst sieht das Subjekt sich selbst anderswo als ein Objekt, das auf das Subjekt zurückschaut. Dies ist für Lacan das, was Freud das Unheimliche nannte, und durch den Traum des Wolfsmanns verkörpert wurde. Zweitens ist die Angst also keine Fixierung der Abwesenheit. Sie läuft im Gegenteil, noch in Freud’scher Manier, auf ein „‘GEFAHR!‘-Signal“ hinaus und somit auf eine grundlegende subjektive Abwehr. Die Abwesenheit ist vielmehr auf katastrophale Weise in der so genannten Passage zum Akt (passage a l’acte) fixiert, wie es Freuds Fallgeschichte der jungen homosexuellen Frau und ihr Selbstmordversuch verkörpern.
Lorenzo Chiesa ist ein Philosoph, der viel über Psychoanalyse veröffentlicht und gelehrt hat. Zu seinen Büchern über Psychoanalyse zählen Subjectivity and Otherness (MIT Press, 2007); Lacan and Philosophy (Re.press, 2014); The Not-Two: Logic and God in Lacan (MIT Press, 2016); und The Virtual Point of Freedom (Northwestern University Press, 2016). Vor kurzem hat er ein neues Buch (gemeinsam mit Adrian Johnston) mit dem Titel God Is Undead. Psychoanalysis for Unbelievers abgeschlossen. Derzeit schreibt er an einer Monografie über Lacan und Badiou, ihre formalisierten Ontologien und die Psychoanalyse als Wahrheitsverfahren mit dem vorläufigen Titel Letter and Event. Lacan, Badiou und die Zukunft der Psychoanalyse. Zurzeit ist er Senior Lecturer für Philosophie an der Universität Newcastle, wo er auch als Mitbegründer der Fakultätsforschungsgruppe für Kritische Theorie und Praxis fungiert. Zuvor war er Professor für modernes europäisches Denken an der Universität von Kent, wo er das Centre for Critical Thought gründete und leitete. Er war Gastwissenschaftler an Institutionen im Vereinigten Königreich, Kontinentaleuropa, den USA und Asien, darunter das Freud Museum in London und das Freud's Dream Museum in Sankt Petersburg.