Gewalt - Internationale Perspektiven

Einführung von Monika Pessler

Mit dem Jahresthema „Gewalt“, dem wir heute auf so vielen Ebenen begegnen, ob im schädigenden Missbrauch unseres Planeten, gegenüber Frauen, Minderheiten oder im Krieg, setzt das Sigmund Freud Museum jenen Dialog fort, den Freud einst mit der Psychoanalyse und ihren soziokulturellen Implikationen initiierte. Die hier auf unserer Homepage vorliegende digitale Auseinandersetzung ermöglicht die Erweiterung des analogen Kommunikationsbereichs des Museums, wo 2023 zu dieser Problematik auch eine Ausstellung und eine Konferenz stattfinden werden. Die nun folgenden Text- und Bildbeiträge wurden von den Mitgliedern unseres Wissenschaftsbeirats verfasst und stellen eine sinnstiftende und wertvolle Ergänzung unseres Jahresprogramms 2023 dar: Mehr ...

Jahresthema 2023

Über Gewalt

Im Jahr 1932 bat Einstein Freud auf Anregung des Völkerbunds, sich mit der Frage „Warum Krieg?“ zu beschäftigen. Ist es möglich, „die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hassens und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden“? Freuds Antwort ist pessimistisch. Gewalt ist im Grunde eine „Triebkomponente“ des Menschentieres. Sie richtet sich sowohl nach innen als auch gegen den anderen, und vermittelt durch das Wachsen von Gefühlsbindungen und Identifizierungen wird sie zum Gruppensystem. Die Gesetze, die Gesellschaften regieren, oder das Wirken eines Systems sind ihrerseits Produkte roher Gewalt: Im schlechtesten Fall stützen sie bloß eine bestehende Macht, im besten ermöglichen sie ihre Umverteilung. Frauen und Kinder, die Schwachen, sind die Unterdrückten, betont Freud. In den romanischen Sprachen wie im Deutschen verweist das Wort Gewalt auf Vergewaltigung. Nur die Stärkung des Intellekts, die Verinnerlichung unserer Aggressionstriebe, was auch immer deren Folgen, können zu einer kulturellen (oder zivilisatorischen) Ablehnung von Krieg und menschlicher Gewalt führen. Freud macht sich vorsichtige Hoffnungen.

Picassos Guernica erinnert an den Schrecken, die Brutalität des Krieges, den Schrecken, den er für Frauen, Kinder, Tiere besitzt. 1937 fiel die Gewalt in Guernica vom Himmel, ebenso wie in all den vielen Kriegen seitdem, von Hiroshima bis in die Ukraine. Schreiende Frauen, ein totes Kind, ein ausgeweidetes Pferd, das Leid ist ziellos. Dennoch ist Picassos Gemälde in seiner emotionalen Darstellung des Schreckens ein Aufruf zur Zivilisation. Das ist es, was Gewalt tut. Denkt nach. Verabscheut sie.

Lisa Appignanesi OBE (britischer Verdienstorden) ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, Romanautorin und Kulturkommentatorin. Sie war Präsidentin des English PEN, Vorsitzende des Freud Museum London und bis 2020 Vorsitzende der Royal Society of Literature, deren Vizepräsidentin sie jetzt ist. Außerdem ist sie Gastprofessorin am King's College London. Zu ihren nichtfiktionalen Publikationen gehören u.a. Everyday Madness: On Grief, Anger, Loss and Love (2018), Trials of Passion: Crimes in the Name of Love and Madness (2014), All About Love: Anatomy of an Unruly Emotion (2011), das preisgekrönte Mad Bad and Sad: A History of Women and the Mind Doctors from 1800 (2008); Freud's Women (1992/2005, mit John Forrester) und ein biografisches Porträt von Simone de Beauvoir (2005). Sie ist außerdem Autorin der von der Kritik gelobten Familienerinnerungen Losing the Dead (1999) und von neun Romanen, darunter The Memory Man (2004, ausgezeichnet mit dem Holocaust Fiction Prize) und Paris Requiem (2001/2014).

Oleksandr Filts lebt und arbeitet in Lwiw (Ukraine) und ist aufgrund anderer, dringender Herausforderungen in Zeiten des Krieges nicht in der Lage, ein Statement zu verfassen.

Oleksandr Filts, Prof. Dr., leitet als Psychiater und psychoanalytischer Psychotherapeut die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Fakultät für postgraduale Ausbildung der Nationalen Medizinischen Universität Danylo Halytsky Lviv. Er ist überdies Gründungsmitglied und Präsident des ukrainischen Dachverbands für Psychotherapie. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit österreichischen Psychotherapeut:innen ein Ausbildungsprojekt für Gruppenpsychotherapie, das er bis heute gemeinsam mit Liudmyla Samsonova leitet. Von 2005 bis 2007 war Professor Filts Präsident der European Association of Psychotherapy (EAP). Die Arbeit mit Krisen, traumatischen Erfahrungen und deren Folgen ist einer der vielen Schwerpunkte seiner Arbeit.

Freud, Gewalt und Gesetz

Freud: “So scheint es also, daß der Versuch, reale Macht durch die Macht der Ideen zu ersetzen, heute noch zum Fehlschlagen verurteilt ist. Es ist ein Fehler in der Rechnung, wenn man nicht berücksichtigt, daß Recht ursprünglich rohe Gewalt war und noch heute der Stützung durch die Gewalt nicht entbehren kann.“[1]. Diese Sätze erinnern mich an die Erstürmung des US-Kapitols durch Trump-Unterstützer am 6. Januar 2021: ein Augenblick, in dem der Rechtsstaat fast zusammengebrochen wäre, als Gewalt in eben dem Gebäude ausbrach, in dem das Recht festgelegt werden sollte. Der seltene Fall, dass die Gewalt sich gegen die Institution des Rechts richtete.

Rubén Gallo ist Walter S. Carpenter Jr. Professor für Lateinamerikanische Literatur an der Princeton University, wo er seit 2002 lehrt. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter Mexican Modernity: The Avant-Garde and the Cultural Revolution (2006, MIT Press, Gewinner des Katherine Singer Kovacs Prize der MLA), Freud's Mexico: Into the Wilds of Psychoanalysis (2010, MIT, Gewinner des Gradiva-Preises), Proust's Latin Americans (2014, Hopkins). Er ist auch Romanautor und hat zwei Bücher über Kuba veröffentlicht: Teoría y práctica de la Habana (2017) und Muerte en La Habana (2021). Seine Werke wurden ins Französische, Spanische, Italienische, Japanische und Chinesische übersetzt. 2020 wurde er in den Vorstand der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

[1] Sigmund Freud (1931/32), Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 19-20.

Ein Aufstand gegen die Todesstrafe

Der Iraner Mohsen Shekari war dreiundzwanzig Jahre alt und wurde am 8. Dezember 2022 hingerichtet, nachdem er schuldig gesprochen wurde, ein Mitglied der Iranischen Basij-Miliz verletzt und „Krieg gegen Gott geführt“ zu haben. Shekaris Hinrichtung wird hier auch deshalb hervorgehoben, weil sie die erste bekannte Hinrichtung in direkter Folge der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste im Iran ist.

Am 16. September 2022 begannen die andauernden Proteste und Unruhen im Iran als Reaktion auf den Tod von Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung durch die Sittenpolizei wegen Tragens eines Hidschabs, der nicht den Regeln der Hidschab-Gesetze im Iran entsprach.

Ich glaube, das, was wir im Iran beobachten, während ich dies schreibe, ist eine der wichtigsten und subversivsten feministischen Bewegungen unserer Zeit. Diese feministische Bewegung ist eine Bewegung, die nicht ausschließt; sie schließt keine Männer aus, sie schließt keine verschleierten Frauen aus, unterschiedliche soziale Klassen und Ethnien sind an - diesem Aufstand beteiligt, der zum Großteil aus Frauen besteht, aber eben nicht nur aus Frauen. Und er ist nicht einmal altersspezifisch, auch wenn er mehrheitlich aus sehr jungen Menschen besteht, die meist zwischen 1995 und 2010 geboren wurden, der sogenannten Generation Z. Denn in dieser Geographie ist überdeutlich geworden, dass unsere Emanzipation zwangsläufig ineinandergreift.

Dieses Gefühl der Verbundenheit und die Einladung zur Gemeinsamkeit liegen diesem Aufstand zugrunde und im Kern ist er eine Revolte gegen die Todesstrafe und die unendlichen symbolischen Schichten einer derartigen Haltung. Er ist ein Marsch für eine Ethik der Lebensbedingungen.

Wir beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, dieser feministische Aufstand bezieht Stellung gegen die Todesstrafe. Nasrin Sotoudeh, die inhaftierte iranische Rechtsanwältin und politische Aktivistin, bezieht Stellung gegen die Todesstrafe. Sotoudeh hat vor Kurzem den Robert Badinter-Preis erhalten, und in ihrer Dankesrede, die sie aus dem Gefängnis übermittelt hat, erinnerte sie daran, dass die öffentliche Meinung heute mehr denn je zuvor für die Abschaffung der Todesstrafe ist.

Wir beziehen entschieden Stellung gegen die Todesstrafe, nicht nur aus unseren humanitären Bestrebungen heraus, sondern weil die Verbundenheit zwischen uns allen auf der Hand liegt und weil, wie Judith Butler uns eindrücklich erinnert, jedes Leben betrauerbar ist. Die Iranerinnen und Iraner sagen nein zur Todesstrafe, was sich eindrucksvoll in diesem Aufstand einer Ethik des Lebens und der Lebensbedingungen ausdrückt.

Schon im Geflecht der Worte „Frau, Leben, Freiheit“ zeigt sich diese klare Verbindung zum Leben, zu Bindung, Verbindung, Libido und Sublimierung … Sie sagen nicht, “wir wollen sterben für die Freiheit“, sie sagen, „wir wollen leben für die Freiheit“: Sie gehen auf die Straße und riskieren für bessere Lebensbedingungen ihr Leben. Ein Leben in Würde, Freude, Freiheit und Veränderung, eben all die Ableitungen des Lebenstriebs.

Die Menschen im Iran beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, das ist der Kern dieses Aufstands. Wenn also gegen Mohsen Shekari die Todesstrafe verhängt wird und weitere Hinrichtungen zu befürchten sind, gehen sie auf die Straße … denn diesem Aufstand innewohnend ist die Ablehnung des stummen Thanatos, eine Ablehnung, die nur aus der Anerkennung dieses Triebs in jedem einzelnen von uns entstehen kann.

Erlauben Sie mir das Beispiel meines Großvaters mütterlicherseits, nicht, weil er mein Großvater war, sondern als Metapher dafür, was ich hier ausführen will. Er war vor der Islamischen Revolution von 1979 Bezirksstaatsanwalt von Teheran, und obwohl ihm die Todesstrafe zur Verfügung stand, griff er nie darauf zurück, selbst wenn das für ihn äußerst konfliktreich und brisant wurde. Er glaubte nicht an die Todesstrafe, ohne wenn und aber. Nach der Revolution sollte er wegen seiner engen Beziehungen zum Vorgängerregime hingerichtet werden. Doch eben jene Menschen, deren Verurteilung zum Tode er verhindert hatte, waren nun diejenigen, die ihn hinrichten sollten, und sie brachten es nicht über sich, die Exekution des Mannes anzuordnen, der ihr Leben verschont hatte. So nahmen sie ihm den Pass und einen Großteil seines Besitzes, lehnten es aber ab, ihn zum Tod zu verurteilen. Er wurde 98 Jahre alt, und bis zu seinem Lebensende diskutierten wir heftig und hatten leidenschaftliche Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf alle anderen politischen Fragen, aber wir waren beide gegen die Todesstrafe. Es versteht sich von selbst, dass er auch Glück gehabt hat, im Unterschied zu vielen anderen mit ähnlichen ethischen Einstellungen, die hingerichtet wurden und weiter hingerichtet werden. Es geht hier um eine kompromisslose Haltung gegen Hinrichtungen, für alle Meschen, in jedem Land, unter allen Umständen.

Wir beziehen Stellung gegen die Todesstrafe, nicht aufgrund einer Moral: Denn mit Nietzsche, Derrida, Freud, Lacan … wurden wir mit der Prekarität unseres Rechtsempfindens konfrontiert, mit der Grausamkeit, die sich hinter der Moral verbirgt, und damit, wie sehr Kants kategorischer Imperativ in Grausamkeit wurzelt. Mit Freud wurden wir mit unserem unvermeidlichen inneren Todestrieb konfrontiert, mit Aggression, Ambivalenz und der Wahrheit, dass die Lust an der Zufügung von Grausamkeit als moralische Pflicht maskiert werden kann. Wir sind uns sogar Derridas Feststellung zutiefst bewusst und haben sie ständig vor Augen, nämlich dass Gegner der Todesstrafe sich letztlich auf andere Formen von Grausamkeit festlegen können, etwa lange und qualvolle Haftstrafen. Und wir können auch Derridas absolute psychoanalytische Haltung nicht verneinen, dass die Haltung von Gegner:innen der Todesstrafe – ihn selbst eingeschlossen – in gewisser Weise aus einem unbewussten Schuldgefühl entsteht, aus der Angst, das eigene Leben zu verlieren, und so in gewisser Weise die Motivation zur Abschaffung der Todesstrafe aus unserer eigenen Angst davor entsteht, verurteilt zu werden. All das trifft zu, aber trotz meiner großen Bewunderung für Derrida (und wie Judith Butler großartig herausgearbeitet hat): Das ist nicht alles. Vielleicht beziehen wir, bezieht das iranische Volk aus einer nicht-humanitären Gastfreundschaft heraus Stellung, übrigens ein weiterer Begriff von Derrida. Vielleicht hat mein Großvater nicht aus Eigennutz Stellung gegen die Todesstrafe bezogen, oder aus einer Ahnung, dass diese Haltung ihm selbst eines Tages das Leben retten könnte, sondern wegen einer echten Wahrnehmung unserer Verbundenheit, des „Ichs“, das nur durch den anderen möglich wird, aus dem Gefühl, ein denkendes Subjekt zu sein und zu wissen, dass wir alle unvermeidlich miteinander verbunden sind. Ich glaube, mein Großvater hat sich an dem Tag, an dem er Stellung gegen die Todesstrafe bezogen hat, selbst das Leben gerettet, nicht deshalb, weil diese Haltung ihm später tatsächlich das Leben gerettet hat, sondern weil wir in dem Augenblick, in dem wir zum Henker eines anderen Lebens werden, einen Teil von uns selbst töten, uns dem Urteil anschließen, uns selbst und unser Gefühl der Verbundenheit mit dem anderen abtöten, und das ist kein Leben. Denn zu überleben, unterscheidet sich drastisch davon, ein Leben zu leben, und ein Leben zu leben, ist nur möglich, indem das Subjekt durch ein Bewusstsein für den anderen entsteht. Wir sind uns bewusst, dass dieser Weg seine eigenen Höllen und Probleme mit sich bringt, und doch ist er der einzig mögliche Weg, ein denkendes Subjekt zu werden.

Somit hat mein Großvater sein Leben gerettet, lange bevor sein Leben von jemand anderem gerettet wurde, er hat sein Leben an dem Tag gerettet, als er ein authentisches Gefühl einer Verbundenheit und eines Nebeneinanders entwickelt hat. Das ist die Tradition dieses Aufstands, von Frau, Leben und Freiheit, in dem die Menschen im Iran und insbesondere die Frauen ihr authentisches Herkunftsgefühl bewiesen haben, ihr Gefühl für die objektalisierende Funktion des Triebs, für Verbundenheit und Gemeinsamkeit, für ein Gefühl der Verbindung, ein Marsch hin zum Leben mit dem Bewusstsein des ihm innewohnenden Todestriebes mit all seinen Verführungen und Fallen am Wegesrand, nicht, weil wir Derridas Warnungen bezüglich unserer aggressiven Anteile nicht zustimmen würden, sondern genau deshalb, weil wir sie in uns und im anderen angenommen haben, jedem „anderen“, hier in meinem Land und in Ihrem. Wir beziehen kompromisslos Stellung gegen die Todesstrafe, weil wir uns damit nicht nur an einer Ethik des Lebens orientieren, sondern an einer Ethik, die sich des zentralen Signifikanten der Lebensbedingungen bewusst ist.

Wir revoltieren mit diesem Aufstand von „Frau, Leben, Freiheit“ in einer getrennten Gemeinsamkeit gegen die Todesstrafe im Iran, nicht im Namen der Gleichheit, sondern im Namen der Differenz und all dessen, was sie auf inhärente, unvermeidliche Weise repräsentiert. Kein Wenn und Aber, denn letzten Endes ist er eine Ethik der Erotik, der Liebe, des Lebens und der Lust mit allen ihren Ambivalenzen, Konflikten und Widersprüchen. Denn etwas anderes zu sagen, hieße, einen Teil von uns selbst zu verneinen, der zurückkommen und uns jagen wird, wie Freud gewarnt hat, und wir müssen uns der Illusion von schlafenden Hunden gewahr sein, die in Wirklichkeit hellwach sind und bellen.

Denn in dem Augenblick, in dem das Leben einer anderen Person und ihre Lebensbedingungen nicht mit Würde und Betrauerbarkeit behandelt werden, beginnen unsere Leben zu enden, selbst wenn wir überleben.

 

Gohar Homayounpour

Teheran, 10. Dezember 2022

Gohar Homayounpour ist Psychoanalytikerin und mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnete Autorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsaA), der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI) und der National Association for the Advancement of Psychoanalysis (NAAP). Sie ist Lehranalytikerin und Supervisorin innerhalb der Freud‘schen Gruppe von Teheran, deren Gründerin und ehemalige Präsidentin sie ist. Sie ist auch Mitglied der IPA-Gruppe Geographies of Psychoanalysis. Homayounpour hat zahleiche psychoanalytische Artikel veröffentlicht, unter anderem in den Zeitschriften International Journal of Psychoanalysis und Canadian Journal of Psychoanalysis. Ihr erstes Buch, Doing Psychoanalysis in Tehran (2012, MIT), wurde mit dem Gradiva-Preis ausgezeichnet und in Sprachen wie Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Spanisch übersetzt. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Persian Blues, Psychoanalysis and Mourning (2022, Routledge). Weitere aktuelle Veröffentlichungen und Buchkapitel sind „The Dislocated Subject“ (2019) und „Islamic Psychoanalysis and Psychoanalytic Islam“ (2019).

Trigger und Triggerwarnungen

Freuds Feststellung nach den Clark Lectures 1909, „Amerika ist ein Fehler“, verfolgt uns bis heute. Amerika ist zu einer Nation geworden, in der jedes Jahr mehr Kinder als Polizisten ermordet werden, in der es gefährlicher geworden ist, in die Schule zu gehen als Auto zu fahren. Es ist für junge Menschen heute leichter, ein Sturmgewehr zu kaufen als eine Flasche Bier, und trotzdem erhalten Leute mehr Aufmerksamkeit, die etwas Anstößiges sagen, als jemand, der eine brutale Straftat begeht. Amerika ist vielleicht nicht nur ein Fehler, aber gegenwärtig ist es ein Land, das von unvereinbaren Haltungen und seinem Hang zu Gewalt zerrissen wird.

Wie können wir diese Unstimmigkeiten verstehen – und sind wir verpflichtet, sie zu verstehen? Manchmal reicht es vielleicht aus, einfach die Widersprüche festzustellen, da Verstehen, wie Claude Lanzmann einmal gesagt hat, einfach „obszön“ sein kann. Wie kann es sein, dass heute die Gedanken- und Sprachkontrolle strenger ist als die Gesetze, die den Waffenbesitz reglementieren? Wie kann es sein, dass Universitätsprofessor:innen verpflichtet sind, ihre Studierenden mit Triggerwarnungen vorzuwarnen, bevor sie potentiell anstößiges Material präsentieren? Es gibt doch auch keine Warnsignale, wenn junge Männer in Grund- oder Mittelschulen den Abzug ziehen und unschuldige Kinder und Jugendliche ermorden.

Wenn Freud in Warum Krieg (1932/1933) meint, „Recht und Gewalt sind uns heute Gegensätze“ und „… daß sich das eine aus dem anderen entwickelt hat“, dachte er daran, dass „Interessenkonflikte unter den Menschen … durch die Anwendung von Gewalt entschieden“[1] werden. Übertragen wir dieses Argument auf die aktuelle gesellschaftspolitische Situation in den USA, könnten wir zum bitteren Schluss kommen, dass dieser Interessenkonflikt mit den Leben und Schicksalen von Kindern und dem Recht der Erwachsenen ausgespielt wird, jung und unschuldig zu bleiben. Während Kinder in Schulen gnadenlos ermordet werden, fordern Erwachsene ein, wie empfindsame Kinder behandelt zu werden, und bestehen darauf, gewarnt und beschützt zu werden, bevor ihnen die harten und manchmal traumatischen Tatsachen des Lebens gesagt werden. Etwas ist faul im Staate Amerika, wenn die symbolischen Väter (in Gestalt der Republikanischen Partei) nur darum kämpfen, die ungeborenen Kinder zu schützen, sich weigern, für härtere Waffengesetze zu stimmen, und eine Generation von jungen Erwachsenen hervorbringen, die Triggerwarnungen braucht, um nicht emotional verletzt zu werden.

Jeanne Wolff Bernstein, Ph.D., ist ehemalige Präsidentin, Supervisorin und Analytikerin am Psychoanalytic Institute of Northern California (PINC), San Francisco. Sie ist Mitglied des Lehrkörpers des PINC und des NYU Post-Doctoral Program for Psychoanalysis and Psychotherapy. Sie war 2008 Fulbright-Freud Visiting Lecturer of Psychoanalysis am Sigmund-Freud Museum in Wien. Sie ist Mitglied und Vorstandsmitglied des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse und arbeitet heute als Psychoanalytikerin in Wien. Sie hat zahlreiche Artikel zu den Schnittstellen zwischen Psychoanalyse, bildender Kunst und Film veröffentlicht. Derzeit arbeitet sie an ihrem Buch über Edouard Manet, Enframing The Gaze.

 

[1] Sigmund Freud (1931/32), Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 14.

Hände der G.

  1. Das jungfräuliche Blatt Papier vor mir deutet die Möglichkeit von Gewalt an.
  2. Ein von der Hand gezogener Strich auf der Papierfläche ist die begangene Gewalt der Differenzierung.
  3. Gewalt liegt in menschlichen Händen; sie basiert auf Sprache, einer Sprache, die ein Virus ist, der die Möglichkeit von Gewalt überträgt.
  4. Gewalt gehört der anderen Seite der symbolischen Matrix an; passage à l’acte ist ein Akt des gewaltsamen Verstoßes gegen gesellschaftliche Bindungen.
  5. Die Spiegelfläche, die mein Bild zusammenstellt und als meinen Doppelgänger zurückwirft, bringt eine andere Gewalt mit sich.
  6. Die narzisstische Wirkung des Ideal-Ichs mit seinen vertikalen Identifizierungen mit den Führern der Menschheit ist Gewalt.
  7. Massenmedien als narzisstische Prothesen sind die Gewalt der Entsingularisierung und Entsubjektivierung. Und dieser Prozess vollzieht sich nicht ohne menschliche Hände.
  8. Kontrollblick und mediale Stimmen sind Teil des imaginären Anderen der paranoischen Gewalt.
  9. „Ist“ ist Gewalt. Hände weg.

Dr. Victor Mazin, Ph.D., ist praktizierender Psychoanalytiker. Der Gründer des Freud's Dream Museum in St. Petersburg (1999) ist Ehrenmitglied des Museum of Jurassic Technology (Los Angeles) sowie Leiter der Abteilung für theoretische Psychoanalyse am Osteuropäischen Institut für Psychoanalyse (St. Petersburg), außerordentlicher Professor an der Fakultät für freie Künste und Wissenschaften der Staatlichen Universität St. Petersburg und Ehrenprofessor des Instituts für Tiefenpsychologie (Kiew). Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen ins Russische tätig und war Chefredakteur der Zeitschrift Kabinet und Mitglied der Redaktionsausschüsse folgender Fachzeitschriften: Psychoanalysis (Kiew), European Journal of Psychoanalysis (Rom), Transmission (Sheffield), Journal for Lacanian Studies (London). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher über Psychoanalyse, Dekonstruktion, Kino und bildende Kunst verfasst.

Höchstes Unrecht

Es ist früher Montagmorgen im Sommer 2022 nach einem Wochenende, an dem die Fernsehnachrichten und sozialen Medien unablässig das Urteil des US-amerikanischen Höchstgerichts am Freitag zuvor wiedergekäut haben. Ich starte mein Zoom-Fenster, um die Sitzug mit einer einfühlsamen und leistungsorientierten Patientin zu beginnen. Sie ist in den Sechzigern und beginnt gleich damit, mir ihre Reaktionen und Assoziationen zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs mitzuteilen, das Recht auf Abtreibung zu streichen. Diese rechtliche Entscheidung verwirft fünfzig Jahre an Präzedenzfällen. Sie ebnet mindestens 24, möglicherweise mehr amerikanischen Staaten den Weg für die Abschaffung von reproduktiven Rechten.

Meine Patientin ist empört und voller Kummer. Ihre gewöhnlich melodische Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Früher einmal war sie katholische Nonne und gesellschaftlich progressiv. Sie verstand aufgrund ihrer Arbeit mit jungen Menschen, Minderheiten und Menschen mit geringem Einkommen, wie unverhältnismäßig und gewaltsam repressive Abtreibungsgesetze Frauen treffen können.

Sie kennt Sándor Ferenczis Aufsatz über das „unwillkommene Kind“ von 1929 nicht, ebenso wenig wie die Beziehungstheorien von Jessica Benjamin zu mütterlicher Subjektivität und Anerkennung oder die soziologische Forschung. Doch sie hat großes Mitgefühl mit anderen. Das ist keine Reaktionsbildung. Es kommt aus ihrem tiefsten Herzen. Auf einer persönlichen Ebene ist sie besorgt, wie der lange Arm der Regierung sich auf Körper und Familie ihrer Schwiegertochter auswirken wird. Sie kann die Unbedachtheit der Befürworter des neuen Urteils und ihre pervertierten religiösen Argumente zugunsten des Obersten Gerichts kaum fassen. „Wie können sie so dumm und kaltschnäuzig sein!“, sagt sie. Aus meiner Perspektive als ihr Analytiker sind ihre Reaktionen zusätzliche Beweise dafür, wie sehr Kultur und Gesellschaft die individuelle Subjektivität durchziehen.

Täglich stehen Frauen vor vielen komplexen Entscheidungen. In unserer modernen Welt können sie mit der Entscheidung konfrontiert sein, Krisenschwangerschaften abzubrechen, die sie nicht geplant haben, nicht wollten oder aus Gründen nicht austragen können, die von ihren Wünschen bis zu gesundheitlichen Bedenken reichen können. Diese Entscheidungen erhalten oft eine Dimension von Gewalt, wenn Abtreibungsgegner oder Regierungen die Menschenrechte mit Füßen treten. Der Zugang zu sicheren, legalen Abtreibungen ist ein Grundrecht. Internationale Menschenrechtsnormen und Verträge legen fest, dass es eine Form von Diskriminierung darstellt und eine Reihe von Gesundheitsrisiken birgt, Frauen, Mädchen und schwangeren Trans-Personen den Zugang zu Abtreibungen zu verweigern. Menschenrechtsausschüsse der Vereinten Nationen rufen Regierungen auf der ganzen Welt regelmäßig dazu auf, Abtreibung zu entkrimialsieren und zumindest in bestimmten Situationen den Zugang zu sicheren, legalen Abtreibungen zu gewährleisten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erwähnt die reproduktiven Rechte nicht per se, aber viele ihrer Absätze sind für diese grundlegend. Zum Beispiel Artikel 1 – das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person – untermauert angemessene Schwangerschaftsvor- und nachsorge, um die Mütter- und Kindersterblichkeit zu reduzieren, die Freiheit zu entscheiden, ob und wann (und mit wem) man Kinder hat, das Recht, ohne Angst vor sexueller (oder anderer) Gewalt zu leben, und das Recht, medizinische oder traditionelle Verfahren (z. B. Hysterektomie, weibliche Genitalverstümmelung) zu verweigern. Doch vielen Frauen dieser Welt, auch Frauen in einigen westlichen Industrienationen, mangelt es an reproduktiven Rechten oder sie haben nur beschränkten Zugang zu Aufklärung und medizinischen Diensten, die sie benötigen, um Entscheidungen zu treffen und so von den Rechten Gebrauch zu machen, die ihre Regierungen garantiert haben.

Die renommierte NGO Human Rights Watch hält fest, dass reproduktive Rechte Menschenrechte sind, auch das Recht auf Abtreibung. Die Pflicht, Frauen, Mädchen und anderen schwangeren Personen Zugang zu sicheren und legalen Abtreibungen zu bieten, ist Teil der grundlegenden menschenrechtlichen Verantwortung von Staaten. Wie Human Rights Watch in Sachverständigengutachten für oberste Gerichte in Ländern der ganzen Welt festgestellt hat, stützen internationale Menschenrechtsnormen und die entsprechende Rechtsprechung den Schluss, dass Entscheidungen über Abtreibung allein der schwangeren Person zukommen, ohne Einmischung oder unzumutbare Einschränkungen durch den Staat oder Dritte. Ihre Argumente wurden von Gerichten in vielen Ländern wie Brasilien, Kolumbien oder Südkorea und zuletzt von Partnerorganisationen in den Vereinigten Staaten zur Kenntnis genommen.

Während ich schreibe, hat das Parlament von Indonesien ein neues Strafrecht verabschiedet. Dieses neue Strafrecht verbietet allen Personen im Land außerehelichen Geschlechtsverkehr. Mit den neuen Gesetzen, die in drei Jahren in Kraft treten, wird Sex außerhalb der Ehe mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Menschenrechtsgruppen stellen fest, dass die neuen Bestimmungen sich überdurchschnittlich auf Frauen, LGBTQ-Personen und ethnische Minderheiten auswirken werden. Der immaterielle Schaden für Frauen ist riesig. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Abtreibungsentscheidungen im größten muslimischen Land der Welt von diesem Strafrecht beeinflusst werden. Selbstverständlich folgt daraus, dass alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und/oder sexueller Orientierung, einen gewissen Grad ihrer Freiheiten einbüßen werden.

Psychoanalytiker:innen und psychoanalytische Psychotherapeut:innen sind mit den Dilemmata der Entscheidung vertraut, eine Krisenschwangerschaft abzubrechen oder nicht. Sie ist eine der persönlichsten Entscheidung überhaupt. Die Entscheidung bezieht sich auf den Körper von Frauen und ist nicht leicht zu treffen. Sie involviert das Gefühls- und Privatleben von Menschen. Je nach Kultur und Gesellschaft der Frauen kann die Entscheidung höchst konfliktträchtig sein und Schuldbewusstsein und Scham auslösen. Natürlich müssen Kliniker:innen sich immer ihre eigenen Werte bewusst machen und selbstverständlich müssen sie für mögliche blinde Flecken aufgeschlossen sein. Aber ist die beste Art, Autonomie und Menschenrechte zu bewahren und Müttersterblichkeit und -morbidität zu reduzieren, wirklich umstritten? Meiner Meinung nach ist diese Moralität und Frauenfeindlichkeit zu hinterfragen.

Die Psychoanalyse hilft, sich seiner inneren Welt und ihrer Psychodynamik bewusst zu werden. Sie dreht sich um die Subjektivität im Kontext von Selbst und anderem. Mit anderen Worten, es geht um psychologische Befreiung. Menschenrechte fördern die Befreiung von der anderen Seite, der äußeren, realen Welt. Sie ergänzen die innere Befreiung. Daraus ergibt sich, dass es im reproduktiven Recht, auch dem Recht auf Abtreibungen, auch um Freiheit geht. Jeder Versuch, diese Freiheit zu demontieren, bedeutet höchstes Unrecht.

Spyros D. Orfanos, PhD, ABPP, Direktor und Clinical Professor an der New York University (NYU), Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis; Senior Research Fellow am Center for Byzantine and Modern Greek Studies, Queens College, City University of New York; Fellow der American Psychological Association und ehemaliger Präsident der Society of Psychoanalysis and Psychoanalytic Psychology (39) der American Psychological Association (APA), der Academy of Psychoanalysis des American Board of Professional Psychology (ABPP) und der International Association of Relational Psychoanalysis and Psychotherapy (IARPP). Dr. Orfanos praktiziert Psychoanalyse und Psychotherapie sowie lehrt, supervidiert und publiziert international. 2016 war er Mitherausgeber der Sonderbeilage der Zeitschrift Psychoanalytic Psychology (APA) zum Thema „Psychoanalysis and the Humanities“. 2017 gründete er die NYU Human Rights Work Group (HRWG), die er gemeinsam mit Physicians for Human Rights und der NYU School of Law betreibt. HRWG bietet psychische Gesundheitsdienste für Asylbewerber:innen, Guantánamo-Häftlinge und afghanische Universitätsflüchtlinge und Studierende, die in Kabul festsitzen. Darüber hinaus arbeitet er an einer Reihe von psychoanalytischen Studien über den griechischen Komponisten und Aktivisten Mikis Theodorakis (1925-2021).

 

Gewalt – Trauma – Geschichte

Im Freud‘schen Denken ist Gewalt zwangsläufig mit Trauma verbunden. Freud lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf die unmittelbare Wirkung von Gewalterfahrungen, sondern auf die verzögerten traumatischen Folgen, entweder durch Wiederholung oder durch Erinnerung an eine „Urszene“. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion verwendet Freud dieses Modell der psychischen Zeitlichkeit von (sexuellen) Traumata, um Wiederholung, Verdrängung und Erinnerung in der Geschichte eines von verdrängten, unzugänglichen vergangenen Gewaltszenen „traumatisierten“ Volkes zu analysieren. Seine Überlegungen gaben Anlass zu zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über Kollektivtraumata durch vergangene Gewalterfahrungen. Doch seine Ideen werfen auch die spekulative Frage auf, welche aktuellen „Gewalttaten“ das Potenzial haben, die Humanoiden zu traumatisieren, die in einer hunderte oder tausende Jahre entfernten Zukunft auf dieser Erde wandeln werden. Welche Geschichte machen wir für künftige Generationen? Besteht sie aus den „Ereignissen“, die wir – narzisstisch – als „historisch“ bezeichnen? In einer von Klimawandel, Artensterben, Verschmutzung und Müllproduktion geprägten Zeit ist dies eine wichtige Frage.

Herman Westerink ist Stiftungsprofessor und außerordentlicher Professor für Religionsphilosophie am Zentrum für zeitgenössische europäische Philosophie der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande. Er promovierte an der Universität Groningen und verfasste seine Habilitationsschrift an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die Freud‘sche Psychoanalyse, Sexualität, Subjektivität und Religion veröffentlicht. Unter anderem publizierte er eine Monographie über Freuds Theorien des Schuldgefühls (2009), eine Monographie über und Textausgaben der ersten Ausgabe von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2016, 2021, mit Philippe Van Haute). Außerdem veröffentlichte er eine Monographie über Michel Foucaults Geschichte der Sexualität (2019), sowie eine Monographie über Freuds Metaphysik des Traumas (2022, mit Philippe Van Haute). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Sigmund Freuds Werke: Wiener Interdisziplinäre Kommentare“ (Vienna UP) und der Buchreihe "Figures of the Unconscious“ (Leuven University Press). Er ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse und Philosophie (ISPP/SIPP) und ihrer Freud-Forschungsgruppe.

Gewalt 2023

Mit dem Jahresthema „Gewalt“, dem wir heute auf so vielen Ebenen begegnen, ob im schädigenden Missbrauch unseres Planeten, gegenüber Frauen, Minderheiten oder im Krieg, setzt das Sigmund Freud Museum jenen Dialog fort, den Freud einst mit der Psychoanalyse und ihren soziokulturellen Implikationen initiierte. Die hier auf unserer Homepage vorliegende digitale Auseinandersetzung ermöglicht die Erweiterung des analogen Kommunikationsbereichs des Museums, wo 2023 zu dieser Problematik auch eine Ausstellung und eine Konferenz stattfinden werden. Die nun folgenden Text- und Bildbeiträge wurden von den Mitgliedern unseres Wissenschaftsbeirats verfasst und stellen eine sinnstiftende und wertvolle Ergänzung unseres Jahresprogramms 2023 dar: In einer für die Psychoanalyse spezifischen (selbst)reflektierenden Weise geben Psychoanalytiker:innen, Philosoph:innen, Literaturtheoretiker:innen, Religionswissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen Einblicke in das vielschichtiges Kaleidoskop eines internationalen gesellschaftspolitischen Diskurses –  im Hinblick auf die persönlich ausgewählten inhaltlichen Schwerpunkte aber auch bezüglich ihrer geografischen Positionen. Für ihr Engagement und die Unterstützung dieser Projektidee danke ich sehr herzlich: Lisa Appignanesi aus England (King's College London); Oleksandr Filts aus der Ukraine (Nationale Medizinische Universität Lwiw); Rubén Gallo aus den USA (Princeton University); Gohar Homayounpour aus dem Iran (Shahid Beheshti University Teheran); Viktor Mazin aus Russland (East-European Institute of Psychoanalysis St. Petersburg); Spyros D. Orfanos aus den USA (New York University); Herman Westerink aus den Niederlanden (Radboud University Nijmegen) und unserer Beiratsvorsitzenden Jeanne Wolff-Bernstein aus Österreich (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse).


Wien, 1875: „Es ist wirklich sehr viel faul in diesem ‚Kerker‘, Erde genannt, was durch menschliche Einrichtungen zu bessern wäre in Erziehung, Güterverteilung, Form des Struggle for existance […]“, schreibt Sigmund Freud neunzehnjährig an seinen Freund Eduard Silberstein. In den folgenden Jahren wird sich der angehende Mediziner noch intensiver mit den Ideen „sozialistischer Bestrebungen“ beschäftigen, er wird Stuart Mills Artikel über „Frauenemanzipation“ und „Die Arbeiterfrage“ vom Englischen ins Deutsche übertragen[1] und in seinem Studium der Philosophie auf Franz Bretano treffen, der „die Methode der Naturwissenschaften auf die Philosophie und besonders auf die Psychologie überträgt“[2], wie der junge Freud begeistert feststellt, ganz im Vertrauen darauf, dass nur die Erkenntnisse der Wissenschaften einen unverstellten Blick auf die Welt erlauben und so auch der Politik eine Handhabe für die Organisation einer gerechten und freien Gesellschaft ermöglichen werden.[3]

Widmet er sich vorerst vor allem der Neurologie, so wird seine künftige Erforschung der menschlichen Seele von gesellschaftlichen Entwicklungs- und Fragestellungen nie ganz unberührt bleiben. Schon seinen Studien über Hysterie von 1895, in denen der sexuelle Missbrauch als Krankheitsursache vorausgesetzt wird, ist die Kritik an etablierten Geschlechterordnungen und damit der Hinweis auf soziale Missstände und (sexualisierte) Gewalt eingeschrieben.[4] Im selben Maß wie der Arzt die Konsequenzen äußerer Gewalteinwirkung auf die Psyche untersucht, rückt später auch das ihr inhärente Aggressionspotential in den Fokus seiner Ermittlungen. In Jenseits des Lustprinzips wird Freud seine Trieblehre, in der das „Realitätsprinzip“ der unumwundenen Durchsetzung des „Lustprinzips“ Einhalt zu gebieten versteht, um den „Todesstrieb“ (Thanatos) erweitern. Als Gegen- und Mitspieler des „Lebenstriebes“ (Eros) ist die Betätigung dieser innerpsychischen Kraft nicht allein von pathologischen Phänomenen ablesbar.[5] Wendet sich diese Triebkraft, die nach Stillstand und Auflösung strebt, allerdings gegen die Außenwelt, so mündet sie in Aggression und Zerstörung und wird von Sigmund Freud deshalb nicht nur als „Todes-“ sondern auch als „Destruktionstrieb“ bezeichnet.[6]

So häufig wie sich Freud auf die Geisteswissenschaften beruft, so vehement betont er den naturwissenschaftlichen Charakter der Psychoanalyse. Denn im Gegensatz zur Religion, die er als ernsthafte Bedrohung der Wissenschaft auffasst, zur Kunst, die kaum jemals „Übergriffe ins Reich der Realität“ wagt und zur Philosophie, die, obwohl sie sich „wie eine Wissenschaft gebärdet“, ihren Hang zum Intuitiven nicht abzustreiten vermag, ist es vor allem die Psychoanalyse, die „alles was Illusion ist, sorgfältig vom Wissen“ trennt[7], um einen ganzheitlichen Eindruck vom menschlichen Dasein gewinnen zu können.

Anders hält es Freud mit den Bereichen Soziologie und Recht, die als konstitutive wie konstruierende Faktoren der individuellen Existenz und Gesellschaft fundamentale Anschlussstellen für seine Theoriebildung bereitstellen. So führen die Fragen der Psychoanalyse in das Gebiet der Gesellschaftstheorie und bieten ihm über Jahrzehnte einen Anlass, sich als Soziologe zu versuchen.[8] „Kultur“ und „Zivilisation“ (Freud lehnt es ab, diese beiden Begriffe voneinander zu unterscheiden) erweisen sich in seinen Betrachtungen als die eigentlichen Instrumente gegen Gewalt und Krieg. Sie äußern sich in kulturellen Leistungen, die sinnstiftend zur Anwendung gebracht werden, um 1.) die Natur zu beherrschen, ihre Güter zu nutzen und um 2.) Strukturen sowie Institutionen zu etablieren, die das gesellschaftliche Miteinander und „besonders die Verteilung der erreichbaren Güter regeln.“

Als unabdingbar erweist sich für den Analytiker dabei die kontinuierliche Kraftanstrengung des Triebverzichts und damit auch „ein gewisses Maß an Zwang“[9] – Recht und Gesetz also, die für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Gemeinschaft notwendig scheinen. Andererseits „braucht [es] nicht gesagt werden, dass eine Kultur, welche eine […] große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu halten, noch es verdient“.[10]
Solange eine Gesellschaft von gleich starken Individuen getragen werde, darf sie als unkompliziert gelten: „Die Gesetze dieser Vereinigung bestimmen dann, auf welches Maß von persönlicher Freiheit, seine Kraft als Gewalt anzuwenden, der Einzelne verzichten muss, um ein gesichertes Zusammenleben zu ermöglichen.“ [11]
Letztendlich hängt für Freud der Ausgang der Schicksalsfrage der Menschheit am seidenen Faden ihres Kulturvermögens, das im Besonderen darauf zu richten sei, „der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb“ [12] entgegenzuwirken.
Nichts anderes kann versucht werden, so scheint es, um auch dem aktuellen Unbehagen, – ja, der Angst im Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft entgegenzuwirken. Weshalb wir uns einmal öfter am Ursprungsort der Psychoanalyse einfinden und im Digitalen vernetzen, um unsere Stimmen zu erheben – für eine über alle nationalen Grenzen hinausreichende offene und von Empathie getragene Gesellschaft, ihre kulturelle Weiterentwicklung sowie den Erhalt des natürlichen Gleichgewichts dieser kostbaren, fragilen und gefährdeten Welt.

 

Monika Pessler
Direktorin
Sigmund Freud Museum





 

 

 

 

 

[1] Vgl. Christfried Tögel (2006), „Die Stimme des Intellekts ist leise. Sigmund Freud und die Gesellschaft“, in: nd – Journalismus von Links (https://www.nd-aktuell.de/artikel/89967.die-stimme-des-intellekts-ist-leise.html), zuletzt abgerufen am 16.2.2023.

[2] Walter Boehlich, Hg. (1989), Jugendbriefe an Eduard Silberstein: 1871-1881, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 111 und 116.

[3] Vgl. George J. Makari (2008), Revolution der Seele. Die Geburt der Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 35.

[4] Vgl. Benigna Gerisch und Thomas Köhler (1993), „Freuds Aufgabe der ̦Verführungstheorie̓: Eine quellenkritische Sichtung zweier Rezeptionsversuche“, in: Psychologie und Geschichte 5, Nr. 4, S. 230.

[5] Vgl. Sigmund Freud (1937), Die endliche und unendliche Analyse, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 88-89.

[6] Siehe dazu: Sigmund Freud (1930), Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 478.

[7] Sigmund Freud (1933), XXXV. Vorlesung über eine Weltanschauung, in: Gesammelte Werke, Bd. 15., S. 173.

[8] Vgl. Jürgen Habermas (1973), Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Vorwort, Berlin: Suhrkamp, S. 332- 333.

[9] Sigmund Freud (1920), Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 362.

[10] Ebenda, S 333.

[11] Sigmund Freud (1931/32), Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 17.

[12] Sigmund Freud (1930), Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 506.